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Mails von Gezi-Protesten

Weitere Fotos findet ihr ganz unten.

Freitag, 31. Mai 2013 11:21
Sobald das Morgengebet verstummt, rette sich wer kann:
„Taksim bizim! Istanbul bizim!“ Taksim gehört uns! Istanbul gehört uns!
Es ist eine Entwicklung, die man sich hier in Istanbul noch vor sechs Monaten nicht
hätte träumen lassen.

Damit meine ich nicht die Polizeigewalt oder die Beschneidung der persönlichen Rechte.

Das geschieht hier schon lange, in dem Land, das von außen noch immer als die einzig funktionierende Demokratie des „Ostens“ gesehen wird. Ich spreche davon, dass viele Menschen mobilisiert werden, um auf die Straße
zu gehen, nein sagen, solidarisch miteinander gegen die Obrigkeit stehen.
Seit einigen Wochen schon, kann man hier morgens nicht die Zeitung aufschlagen,
ohne darin einen Artikel über einen Gasangriff seitens der Polizei auf Demonstranten
zu lesen; oder Passanten, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren.
Ich selbst erlebte eine kleine Massenpanik, als ich mit zwei deutschen Freundinnen
nach einem Sight-Seeing-Tag in Richtung Taksim lief, nachdem uns auf dem Platz
am Galata Turm das Biertrinken untersagt wurde. An einem Punkt kamen uns ca. 20
Menschen entgegen gerannt. Ich fragte, was denn los sei und die Antwort war nur
„Police.“ Und dann sah man auch schon die Gasschwaden in der Ferne. Gut, dann
eben nicht Taksim. Statt dessen, ein kleiner Dauerlauf zur Fähre. Nichts wie zurück
nach Asien.
Eine kleine Demonstration gegen den, von Erdoğan gewünschten Syrien-Eingriff sah
ich an einem Abend in der Istiklal Caddesi, der Haupt-Ausgehmeile, mit doppelt so
vielen Polizisten daneben, bereit zum Angriff. Beim Frühstück blickten mir dann jene
Demonstranten mit vom Gas geschwollenen Augen aus der Zeitung entgegen. Im
Internet kann man zusehen, wie Polizisten, die scheinbar ihrem Lieblingsvideospiel
nacheifern, Menschen mit den Gaspistolen aus 1-2 m Entfernung direkt ins Gesicht
schießen.
Aber das alles ist nichts im Vergleich zu dem, was sich in den letzten beiden Nächten
hier abgespielt hat. Es geht um den Gezi Park, der einzig verbliebenen Grünfläche
auf der europäischen Seite, neben dem Taksim Platz gelegen. Es war einmal ein
Park, der sich Kilometer weit erstreckte und nun nur noch ca. ¼ von dem ist, was er
einmal war. Wenn nicht weniger. Dieser letzte Grünstreifen soll nun einem
Einkaufszentrum weichen. Mal wieder. Wie auch schon das älteste Kino der Stadt
vor wenigen Tagen. Dabei ist die Gesamtfläche aller Einkaufszentren Istanbuls
bereits größer als das Land Luxemburg. Und so trafen sich Tausende seit drei Tagen
im Gezi Park, um gegen dessen Zerstörung zu demonstrieren.
Doch, wie eine Freundin es sehr schön formuliert hat: „Es ging nie nur um den Park.
Der Park wurde zu einem Symbol für all das, was die Regierung abgerissen hat, für
die Bäume, die sie gefällt hat, die Geschichte, die sie zerstört hat, die Flüsse, die sie
verschmutzt hat, für das Meer, das sie mit Zement angefüllt hat. Alles im Namen des
Wirtschaftswachstums. Und natürlich als Symbol für die Gesetze, die sie
verabschiedete, um unsere Freiheit zu beschränken. Der Protest im Gezi Park ist ein
Protest gegen diese korrupte Regierung.“
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, pünktlich nach dem 5 Uhr Gebet, kam die
Polizei in den Park und schoss mit Gas auf die dort zeltenden Demonstranten. Sie
verbrannten ihre Zelte und die Instrumente einer Percussion-Gruppe, die tagsüber
dort gespielt hatte. Nur eine Trommel blieb übrig. Viele Demonstranten mussten ins
Krankenhaus gebracht werden, konnten über Stunden ihre Augen nicht öffnen. Am
Donnerstag trafen sich umso mehr Menschen im Gezi Park. Es war ein wahnsinniges
Bild. Der Park, gefüllt mit Menschen, die es satt haben, die endlich nicht mehr still
sein wollen. Die den Kampf um die Verteilung des öffentlichen Raumes eingeläutet
haben. Es war eine ausgelassene und entspannte Stimmung. Mit Musik und
Sprechchören. „Taksim bizim! Istanbul bizim!“
Doch in der Nacht kam die Polizei wieder. Wieder um kurz nach 5 Uhr morgens. Und
sie waren noch besser vorbereitet. Sie kamen aus beiden Richtungen, kesselten die
Demonstranten ein. Sie schossen mit Gaspistolen, Gaskanülen und sprühten Gas
aus Tankern. Ein Freund sagt, er lebt 5 km weit von dem Park entfernt und er kam
dort gegen 5 Uhr an. Auch in dieser Entfernung zum Park tränten ihm die Augen.
Einer Bekannten wurde eine Gaskanüle an den Oberschenkel geworfen, der nun
einen erstaunlichen Bluterguss vorweisen kann.
Es gab eigentlich keinen Ausweg aus dem Park. Eine Treppe gab es, die
zusammenbrach. Diesen kleinen Unfall nutze die Polizei, um noch eine Ladung Gas
auf die am Boden Liegenden zu schießen. Jene, die flüchten konnten, wurden mit
Gasattacken einige Kilometer weit durch die umliegenden Straßen gescheucht.
Danach wurde der Park abgeriegelt. Keiner darf mehr hinein. Eine Freundin, die
direkt neben dem Park wohnt, berichtete, dass es am Morgen um 10 Uhr eine
Pressekonferenz dort gab. Kurz danach, wurde wieder mit Gas gesprüht, damit auch
wirklich alle den Park schnell wieder verlassen. Bleibt abzuwarten, wie es weitergeht.
Am Abend wollen die meisten Demonstranten wieder versuchen in den Park zu
gelangen. Es ist eine, trotz allem, beeindruckende Entwicklung. Denn noch vor
kurzem hätte sich hier niemand auch nur im Traum gedacht, dass so viele Menschen
auf die Straße gehen. Und das immer wieder, komme was wolle, mitten in der
Prüfungszeit.
Doch leider kann man nicht an allen Fronten kämpfen. Und so werden, während wir
alle im Park sitzen, tausende Bäume gefällt und Menschen aus ihren Häusern
vertrieben, um eine dritte Brücke über den Bosporus zu bauen. Und das, obwohl alle
Experten ausdrücklich sagen, dass diese Brücke den Verkehr eher verschlimmern
als verbessern wird.


Freitag, 31.Mai abends


Wir sind eben zurück von der Demo um den Taksim Square herum, müde aber ok.
Es ist unglaublich, was dort los ist! Die ersten Demonstranten sind schon heute
morgen losgezogen. Dort waren mehrere Einsatzgruppen der Polizei positioniert und
machten gerade eine Pause, nachdem sie zuvor innerhalb von 15 Minuten zwei
Gasattacken gefahren hatten. Sie standen in der Sonne, Gasmasken
hochgeschoben, und rauchten. Die meisten Demonstranten hatten sich in die
umliegenden Seitenstraßen zurück gezogen, um ihre Augen mit Milch und ihren
Rachen mit Zitrone zu versorgen.
Wir trafen meine Schwägerin vor dem Starbucks am Meydan (türkisch: Platz). Dann
kamen die Demonstranten wieder zurück, mit neuer Energie und neuem Mut. Gerade
noch sagte ich dann zu meinem Mann: „Lass uns von diesem Starbucks-Eingang
verschwinden. Das ist wie eine Falle hier. Die müssen nur einmal hereinsprühen, und
wir kommen nicht weg ...“ Und schon ging es los. Keine Zeit mehr, einen günstigeren
Standort zu suchen.

Alle flüchteten sich in den Starbucks, und ich musste notgedrungen mitgehen – oder
mich umrennen lassen; eins von beidem ... Gut, dann vergesse ich mal meinen
sonstigen Starbucks-Boykott, denn die Gaswolke ist keine bessere Option. Ich trage
eine Baumarkt-Schutzmaske und eine Sonnenbrille. Das hilft. Im Inneren des Cafes
bin ich hauptsächlich darum bemüht, die Menschen um mich herum zu beruhigen,
denn ich fürchte nichts mehr in diesem Moment, als von einer Massenpanik gegen
die Starbuckswände gedrückt zu werden. Ich berühre sanft Rücken und Arme, und
helfe mit Milch zu verteilen, die der Starbucks netter Weise zur Verfügung stellt.
Ich atme nur ganz schwach, das hilft auch.
Um mich herum nur Stöhnen, rote Augen und Husten.
Dann sprühen sie das Gas, wie erwartet, in den Laden herein.
Nun gut, jetzt kann ich auch nicht aufhören zu husten, und meine Augen kann ich
nicht mehr öffnen, sie brennen viel zu sehr. Dann ist draußen wieder Pause
angesagt und alle stürmen an die halbwegs frische Luft. Ich kann Minuten lang nicht
aufhören zu husten, Luftholen brennt, Augen öffnen brennt, die Nase läuft wie
verrückt. Ein Fotograf gibt mir Wasser. Das hilft. Schon viel besser. Ok. Wieder
kurzes Verschnaufen, und alle in die Seitenstraßen.
Wir warten auf Freunde und schleichen uns dann immer wieder durch Seitenstraßen
an den Kern der Demo heran. So kommen wir ganz gut zurecht. Sind immer wieder
in der Demo, singen die Sprechchöre mit, die Tayyip Erdoğan zum Rücktritt
auffordern, können aber jederzeit wieder in Seitenstraßen verschwinden, sobald die
Gas-Schwaden näher kommen. So brennen nur ab und zu die Augen ein bisschen.
Und es ist immer jemand mit Milch zur Stelle. Alle sind außerordentlich hilfsbereit,
jedem gegenüber.
Es ist eine an sich sehr friedliche Stimmung unter den Demonstranten.
Dann hören wir davon, dass die Fans des Beşiktaş-Fußballclubs angerückt sind.
Sie nehmen den Kampf mit der Polizei auf.
Sie besprühen deren Visiere mit schwarzer Farbe, so dass die Polizisten ihre
Gasmasken abnehmen müssen und spüren, was wir spüren. Clevere Fußballfans!
Kurz später haben sie es in den abgeriegelten Park geschafft. Wir laufen noch ein
wenig mit anderen Menschen in Masken und oft auch Schwimmbrillen durch die
Gegend. Als ich einen Hubschrauber höre, denke ich noch: „Nein, das machen sie
nicht!“ Aber sie machen es.
Die Polizei fängt an, Gasbomben aus dem Hubschrauber in die Menge zu werfen.
Ein Haus geht dabei in Flammen auf. Jeder Polizist, dem wir begegnen, trägt einen
Gürtel, gespickt mit Gaskanülen. Unglaublich. Zwischendrin erreicht uns aber auch
die Nachricht, dass 20 Polizisten ihren Dienst quittiert haben! Sie wollen nicht mehr
mitmachen in dem Wahnsinn. Das ist für mich die schönste Nachricht des Tages!
Nun ja, wir sind heil nach Hause gekommen und konnten hier live erleben, wie das
türkische Fernsehen absolut nichts über die Vorkommnisse berichtet. Tayyip
Erdoğan hielt eine Ansprache über das Rauchverbot. Ansonsten das stinknormale
Programm. Nur in einem Polit-Talk wurde berichtet, dass die Demonstranten die
Polizei ja auch provoziert habe, indem sie Masken oder Tücher vor dem Mund
trugen. Nun gut. Ach ja, und die letzte Twitter-Nachricht, die uns meine
Schwiegermutter lachend vorlas: dass die Beşiktaş-Fans einen Polizeibus
übernommen haben und damit Polizisten scheuchen. Es bleibt also spannend.
So viel erst mal für heute. Gute Nacht.

Samstag, 1. Juni 2013 13:34


Danke erst mal für eure guten Wünsche!
An Schlaf war hier heute Nacht nicht zu denken! Die Proteste haben sich nun auch
auf andere Stadtteile ausgebreitet und so lagen wir im Bett, mit dem Soundtrack
eines Hup- und Pfeifkonzertes im Hintergrund. Es schallte in unser Schlafzimmer.
Gespielt wurde es auf der Bagdad Caddesi, dem Ku-Damm Istanbuls auf der
Asiatischen Seite. Wenn man nicht schlafen kann, kann man auch gleich mal
nachsehen gehen! Meine Schwiegermutter rief noch vom Balkon: “Die Leute sind
völlig außer sich! Einer ist gerade im Pyjama mit einer Flagge über die Straße
gelaufen!”
Und so sind wir natürlich auch wieder los. Es war überwältigend! Dieser ganze
riesige Boulevard voller Menschen und Autos, gemeinsam auf drei Fahrbahnen.
Trillerpfeifen, Vuvuzelas, Kochtöpfe. Was immer Lärm macht ist dabei!
Um 5 Uhr morgens sahen wir Fotos von einer Menschenmasse, die sich über die
Autobahn und dann auch über die Brücke schob!
Der Knoten ist geplatzt, bzw. Die Blase! Als ich im Februar hier ankam, hatte ich viele
Gespräche mit Leuten in meinem Alter, die gar nicht mehr wussten, wie sie hier
weiterleben sollen. Sie sprachen davon, dass sie in einer Blase leben, die bald
platzen wird. Aber sie dachten, es wird eine Blase sein, die platzt und ihnen
Kopftücher aufzwängt, noch mehr Redefreiheit nimmt und Alkohol für immer
verbietet. Keiner, keiner, den ich fragte, was denn aus dem Land werden soll, wenn
alle gehen, die was ändern können, glaubte daran, dass in der Türkei Menschen zu
Massenprotesten bewegt werden könnten.
Aber was sich hier seit dem 1.Mai täglich abgespielt hat, füllte das Fass des
Erträglichen und mit der Gasattacke im Park von Donnerstagnacht auf Freitag war
der letzte Tropfen endlich gefallen. Alle sind angesteckt von dem Glauben, dass sich
was ändern lässt.
Hier in der Türkei glauben alle, dass ihnen ihre Rechte von oben gegeben wurden.
Von Atatürk im Besonderen. Dafür wird er verehrt.
Doch nun schwingt hier dieses überwältigende Gefühl durch die Stadt, dass sich ein
jeder seine Rechte erkämpfen kann, dass sie sich “von unten” genommen werden
können, eingefordert werden können. Einer meiner Freunde, der ganz besonders
wütend und verzweifelt war, der am wenigsten glaubte, dass sich etwas zum Guten
ändern könnte, wurde auch im Park vom Gas im Schlaf überrascht. Er sagte mir, im
Gas dachte er, dass er vielleicht sterben wird. Aber außerhalb der Gaswolke fühlte er
sich so lebendig wie noch nie. Alle fühlen die Freiheit. Die Freiheit, endlich eine
unzensierte Presse zu bekommen, nicht willkürlich nachts von der Polizei angehalten
zu werden, alle Sachen offenlegen zu müssen, abgetastet zu werden. Ohne Grund.
Nur, weil sie es können.


1.6. Später Morgen
Auch auf die Gefahr hin, dass ich euch nerve, hier noch mal Neuigkeiten:
Also, der Park und der Taksim Platz wurden fluchtartig von der Polizei verlassen.
Mein Mann war dort und hat es mit eigenen Augen gesehen.
Die Barrikaden und Busse, die dort gelassen wurden, werden nun seitens der
Protestierenden als Barrikaden genutzt. Hier oben ist es ruhig und die Leute sind in
Feierlaune. Vielleicht etwas zu sehr ... Dafür werden in Beşiktaş am Hafen gerade
Protestierenden von der Polizei eingekesselt und mit Gas bearbeitet.
Außerdem werden jene, die festgenommen wurden, allem Anschein nach gefoltert.


1.Juni 2013 18:05


Hallo again!
Wie ich eben erfahren habe, berichtet Radio 1, dass die Polizei hier das Gas nur
gegen jene Protestanten anwendet, die Steine werfen. Was für eine unfassbare
Farce!!!
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich irgendeinen Stein auch nur in Gedanken
aufgehoben, geschweige denn geschmissen habe, als ich gestern nach Luft rang!
Der Park ist mittlerweile wieder unser! Ebenso der Taksim Meydan! Die Stimmung
war, nachdem ich hier ankam (es dauerte eeeewig bis ich auf einem Boot war, da die
gesamte Bagdad Caddesi ein einziger Autokorso ist), wahnsinnig ausgelassen und
entspannt. Leute singen und tanzen. Feiern sich und ihre Erfolge. Es ist
wunderschön! Allerdings sammelt sich die Polizei schon im benachbarten Tarlabası-
Bezirk und es wird sicherlich noch schrecklich werden heute Abend.
Keine Sorge! Bin bei einer Freundin zuhause jetzt und kann zu Not auch hier
übernachten!
Wo man hinsieht, ein rot-weißes Flaggenmeer und Menschen mit Schwimmbrillen
und Atemschutzmasken. Sieht eigentlich ziemlich lustig aus :)
Die ganze Stadt ist ein einziger Protest. Sogar auf dem Schiff. Als wir in Karaköy
anlegten sangen aufeinmal alle „Bella Ciao“. Das gibt mir ja schon von CD eine
Gänsehaut... Leider hatte ich meine Kamera nicht schnell genug auf filmen umstellen
können. Dafür bekommt ihr aber ein Video von tanzenden Menschen allen Alters.
Denn die Demonstranten sind friedlich! Alle helfen sich gegenseitig. Discos uns
Hotels öffnen ihre Türen zur Verpflegung der Verletzten oder einfach nur der
Hungrigen oder Durstigen. Auch ganz gewöhnliche Bürger öffneten heute ihre
Wohnungen, damit die Demonstranten mal kurz aus den Gaswolken herauskommen
können, zum Luft holen.
Es ist überwältigend!
Allerdings sammelt sich wie gesagt die Polizei schon wieder und sie verwenden
mittlerweile auch das verbotene Agent Orange. Bitte gebt diese Information
irgendwie weiter! Sie müssen gestoppt werden!!!
Liebe Grüße und bitte macht euch keine Sorgen! Gerade feiern alle und ich bin in der
Wohnung!


Samstag, 1. Juni 2013 20:51


Das Gas heißt "Orange Gas" (Portakal Gaz), was sie hier z.T. verwenden. Ich weiß
nicht, ob es "Agent Orange" ist.
Es hat Symptome wie Ohnmacht und Übergeben. Und es wird hier aus Gaspistolen
geschossen. Oft direkt ins Gesicht.
Zwei Freundinnen von einer Freundin haben dieses orangene Gas am Dienstag,
dem ersten Protesttag direkt ins Gesicht bekommen, konnten kaum noch stehen und
mussten würgen. Ihre Gesichter waren gelb und sie konnten 1,5 Stunden ihre Augen
nicht mehr öffnen.


Samstag, 1. Juni 2013 23:03


Wir waren jetzt doch noch mal am Rand des Parks. Mal sehen, was so los ist...
Während die einen tanzen und singen, bauen die anderen die Barrikaden weiter aus.
Einer hat mich ziemlich blöd angemacht, weil ich Fotos mache. Er hat auch gerufen:
"Die Polizei kommt!" Es sollen auch Polizisten in Zivil unterwegs sein, die Krawalle
unter den Demonstranten schüren sollen. Vielleicht war das so einer. Er wollte
vielleicht gerne eine Massenpanik... Denn eigentlich wollen auch alle
Demonstranten, dass man Fotos macht und es im Ausland veröffentlicht.
Ansonsten war die Stimmung ok. Aber alle erwarten das Eintreffen der Polizei.
Es sind wohl an die tausend Menschen verhaftet worden. Die "Schlacht" in Beşiktaş
war ziemlich heftig und es gab viele Verletzte.
Hotels und Bars und die Uni haben ihre Türen für die Verwundeten geöffnet.
Das „Four Seasons“ verteilt Wasser, Zitronen und Essig. Es gibt jetzt wohl eine neue
Gasmischung, gegen die auch keine Milch mehr hilft, nur noch Essig.
Es wird auf ‚fb‘ und Twitter dazu aufgerufen, dass alle ihr W-Lan Passwort auf
„özgürlük“ (Freiheit) ändern, damit jeder überall Zugang zum Internet hat :-)


Sonntag, 2. Juni 2013 10:57


Hallo, meine Lieben,
ich kann nicht behaupten, dass ich wahnsinnig gut geschlafen habe. Wir haben bei
einer Freundin übernachtet, die am Fuße des Gezi Parks wohnt. Die
Geräuschkulisse war laut und ich konnte sie nicht richtig einschätzen. An einem
Punkt haben meine Arme wahnsinnig gejuckt und ich habe Angst bekommen, dass
sie vielleicht irgendwas Komisches gesprüht haben, was durch die Fenster reinkam.
Es ist natürlich völliger Quatsch, es war wahrscheinlich eine Mücke, die mich
drangsaliert hat. Aber ich habe mich eine ganze Weile in diese Absurdität
hineingesteigert. Auch habe ich darauf gewartet, dass ein Freund anruft, um auch
zum Schlafen zu kommen, was er nicht tat... Ich bin nicht gerade entspannt
aufgewacht.
Aber, den Freund haben wir erreicht, es geht ihm gut. Es geht allen gut.
Draußen ist es jetzt ruhig und es regnet.
Die Polizei hat gestern eine wahnsinnig gute Strategie gefahren. Sie haben den Park
und den Platz verlassen, haben die Demonstranten ihrer ausgelassenen Freude
überlassen.
Ich habe ja schon berichtet, dass sie, während die einen ihren vermeintlichen Sieg
feierten, eine kleinere Gruppe am Hafen fertig gemacht wurde. Mit Orange Gas und
Schlägen. Auf fb gab es so viele verschiedene Nachrichten, den ganzen Abend über.
Aus Beşiktaş kamen Hilferufe. "Kommt alle nach Beşiktaş! Die machen uns hier
fertig! Wir brauchen Hilfe!" Andererseits waren Nachrichten zu lesen und zu hören,
dass sich die Polizei schon sammelt und bald den Park stürmt. Oder, dass mehrere
Busse schon auf dem Weg dorthin sind. Also haben sich die meisten dazu
entschieden, den Park zu verbarrikadieren und dort zu bleiben. Alle waren bereit,
warteten auf die Polizei. Doch die Polizei kam nicht. Sie haben die Beşiktaş-Fans,
die hauptsächlich am Hafen kämpften, festgenommen und verprügeln sie nun.
Werden einem Polizisten die Arme schwer, kommt der nächste.
Und durch all das haben sie die Motivation gekillt. Die Kämpfer von gestern, fühlen
sich heute wie Verräter, schämen sich, dass sie nicht an den Hafen gegangen sind,
um denen zu helfen, die vorgestern Nacht den Park zurück erobert hatten. Sie
schämen sich, dass sie müde waren, sich im Park oder zuhause ausgeruht haben.
Und nun denken sie daran, was hätte anders laufen sollen, anstatt darüber nach,
was als nächstes gemacht werden muss.
Die schöne Nachricht am Morgen ist aber, dass noch in der Nacht und ich glaube
auch jetzt, Demonstranten anfingen, den Park und die Istiklal Straße aufzuräumen.
Mit Müllsäcken sammeln sie alles ein, was von der "Schlacht" übrig ist. Wir freuen
uns hier alle sehr darüber und werden wohl auch gleich mitmachen. Denn darum
geht es doch eigentlich. Diese Stadt lebenswert zu halten.


Montag, 3. Juni 2013 12:28


Wir sind seit gestern Abend wieder auf der europäischen Seite. Gestern gab es
erneut eine "Schlacht" in Beşiktaş, neben Erdoğans Amtssitz. Es war wieder eine
sehr brutale Angelegenheit und die Polizei hat sogar mit Gaspistolen in Wohnungen
und in die Bahçeşehir Universität geschossen. Ständig gab es Nachrichten auf fb
und Twitter, dass Erste Hilfe benötigt wird.
Wir waren im Gezi Park und dort hätte die Stimmung nicht friedlicher sein können.
Alle sitzen dort, lassen Ballons steigen, singen, tanzen, reden. Es gibt eigentlich nur
ein Thema. Der Protest. Wer war wo an welchem Tag. Wer nimmt was wie wahr, wie
fühlt man sich mit all dem?
Ein Freund meines Mannes, mit dem ich mich vor einer Woche darüber unterhalten
hatte, dass Leute auf die Straße gehen müssten, statt ein Leben im Ausland zu
planen, rief: "Maria, you told me last week that this is possible! I didn't believe it and
now it happened!" Er ist übrigens einer derer, die seit zwei Tagen an vorderster Front
stehen und von dem Wasserstrahl umgeworfen wurden. Auch diverse Stiefeltritte hat
er abbekommen. Aber sein ganzes Gesicht strahlte, als er mir gestern sagte, dass er
glücklich ist, dass die Revolution nun endlich da ist.
Gegen 1.30 Uhr kam das Gerücht auf, dass die Polizei auf dem Weg zum Park ist.
Ein Mann ging rum, um jedem seine Blutgruppe mit Edding auf den Arm zu
schreiben, damit die Ärzte schneller Bescheid wissen, falls was passiert. Es gab
Aufrufe, die Barrikaden noch ein bisschen höher oder breiter zu bauen und viele
Leute sammelten alles was nicht niet und nagelfest war von der Baustelle und
brachten es zu den Barrikaden. Ich stellte mich dann an den Ausgang des Parkes,
der in Richtung der Wohnung meiner Freundin führt, nur für den Fall, dass man
schnell raus muss.
Einer sagte: „Leute, es ist zu gefährlich, hier neben der Baustelle zu stehen. Lasst
uns in den Park gehen, damit wir andere Fluchtwege haben und nicht in die
Baustelle fallen.“ Also zogen sich alle in den Park zurück. Doch nichts passierte. Eine
Stunde war Warten angesagt. Dann entspannte sich die Situation wieder und viele
kamen zurück auf die Straße. Die Barrikaden haben gehalten! Es gibt keine
Möglichkeit mehr für die Polizei, mit ihren Wasserwerfern in den Park zu gelangen!
Was für ein Erfolg!
Allerdings gibt es heute auch schlechte Nachrichten. Die Verhafteten werden
scheinbar dazu gezwungen ein Formular zu unterschreiben, das besagt, sie werden
von ihrem Recht jemanden anzurufen nicht Gebrauch machen.
Erdoğan spricht davon, dass jene 50 % der Bürger, die ihn gewählt haben, gegen die
Demonstranten kämpfen wollen und er sie nicht mehr lange zurückhalten kann...
Und vorsichtshalber, bevor es hier richtig brenzlig werden könnte, ist er für vier Tage
nach Afrika gereist...


Sonntag, 2. Juni 2013 15:20


So, wir sind jetzt wieder auf die asiatische Seite gefahren und sind zuhause.
Auf dem Weg vom Gezi Park nach Beşiktaş gibt es noch viele Überbleibsel aus der
Nacht zu sehen. Die Stimmung und meine Gefühle dazu sind schwer zu
beschreiben. Überall sind noch die Barrikaden aufgebaut, der Verkehr noch halb
gehemmt. Wundervoll zu sehen ist es, dass Menschenketten im Park volle Müllsäcke
zur Straße reichen.
Die vier Busse, die von der Polizei gestern Nachmittag am Park gelassen wurden
haben zersplitterte Scheiben, sind mit Slogan besprüht und stehen auch noch immer
als Barrikaden quer auf den Straßen. In Beşiktaş fehlen immer wieder große Teile
des Bürgersteiges, weil die Steine in der Nacht zu Barrikaden aufgebaut waren. Nun
liegen sie aufgetürmt am Straßenrand, neben liegengebliebenen
Polizeiabsperrungen und den Baustellenabsperrungen, die Demonstranten als
Barrikaden verwendet hatten. Der Verkehr fließt hier wieder ganz normal und der
Tourismus am Dolmabahçe Palast tut so, als wäre nie was gewesen. Im Gegenteil,
Istanbul hat durch seine Barrikaden nun noch an Sehenswürdigkeiten
hinzugewonnen und Touristen lassen sich davor ablichten...
Am Hafen stehen schon seit Wochen viele Polizeibusse und Polizisten, denn
Erdoğans Istanbul-Büro ist dort. Bisher habe ich noch niemals einen der Polizisten
mit ihren Maschinengewehren lächeln sehen. Bis heute. Wir gehen zum Hafen.
Vorbei an all diesen Polizisten. Sie tragen heute keine Gewehre, nur ihre normalen
Pistolen. Keine Gasmasken. Alle sind sie entspannt, ausgelassen, lächeln und ich
schwöre, manche habe ich lachen sehen. Sie sitzen am Meer, im Bus, lesen Zeitung
oder schlafen. Es ist ein furchtbares Gefühl der Niederlage. Wenn die so glücklich
aussehen und sich so sehr in Sicherheit wiegen, dann ist auf unserer Seite
irgendwas total schief gegangen, oder etwa nicht?
Auf dem Schiff zurück nachhause fühle ich mich schrecklich, dass ich nach Hause
fahre. Ich sollte auch Müll sammeln. Dort sein. Was mache ich denn hier auf dem
Schiff in die falsche Richtung?
Aber dann ruft die Freundin an, die letzte Nacht ihre Wohnung für alle geöffnet hat.
Sie ist auf dem Taksim Platz und sagt, dass sie mir nur sagen wollte, dass es mit
Nichten eine Niederlage ist. Alles sei aufgeräumt, tausende seien im Park und auf
dem Taksim Platz. Die Stimmung sei sehr gut. Das klingt wunderbar! Danke auch
wirklich für diesen Anruf!
Hoffen wir, dass es so bleibt. Mal abwarten was heute Abend noch passiert.
Auf unserer Seite ist das Leben wieder in ganz normalen Bahnen angelangt. Kein
Autokorso mehr. Nicht mal Hupen, was völlig ungewöhnlich ist. Ob nun mit oder
ohne Protest.
Nun ja, das wird wohl erst mal die letzte Mail für heute sein.
Übrigens, noch kurz zu der „Agent Orange“-Geschichte:
Es gab hier auf fb eine CNN-ireport-Meldung, dass die türkische Polizei Agent
Orange verwendet. Das ging natürlich rum wie ein Lauffeuer. Die Meldung wurde
aber wieder gelöscht, ist nicht mehr aufrufbar. So ist das mit den Social Media. Auch
wenn ich, einer der größten fb-Gegner nun auch mal am eigenen Leibe erfahren
habe, wie gut fb sein kann! Und ich, die noch größere Smartphone-Hasserin, habe
mich zum ersten Mal geärgert keines zu haben... Ja, ja, eine kleine Beichte zum
Schluss, sozusagen.
Danke für all eure Antworten und Motivationsgrüße!


Montag, 3. Juni 2013 22:49


Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie wundervoll es ist, diese grenzenlose
Solidarität hier zu erleben. Dies ist eine Protestbewegung, die sich durch wirklich
ALLE sozialen Schichten und Altersgruppen zieht. Ich habe ja schon erzählt, dass
alle jeden mit Milch und Zitronen versorgen. Aber das ist wirklich nicht alles. Zum
Beispiel gab es eine Situation, als mein Mann, zusammen mit vielen anderen
vorgestern vom Taksim Platz in eine Seitenstraße stürmte, um einer Gasattacke zu
entgehen und wirklich jede Tür summte, die gesamte Straße entlang, weil Menschen
in den Häusern die Türöffner drückten, um die Flüchtenden hereinzulassen. Und
nicht nur die Haustüren waren offen, auch alle Wohnungstüren waren offen. Die
Menschen gaben Wasser, ihre Sofas, ihre Badezimmer. Was immer gerade
gebraucht wurde. Mein Mann sagt, in diesem Moment war ihm klar, dass die
Bewegung gewinnen wird. Denn wie soll ein bisschen Gas oder die vermeintlichen
50 % gegen all diese Menschen gewinnen, die auf diese Weise ihre Solidarität
ausdrücken?
Gestern Abend ging ein Mann von ca. 65-70 Jahren durch die Gaswolke und verteilte
Wasser an alle. Die Verkäufer im Bakkal (Späti), Taxifahrer, Studenten, Anwälte...
Alle sind aufeinmal füreinander da. Es scheint keine Unterschiede mehr zu geben.
Und das hier, in Istanbul, wo die sozialen Unterschiede eigentlich sehr deutlich
waren. Wo die reicheren, den "kleinen" Verkäufern nicht mal richtig in die Augen
geschaut haben.
Heute sahen wir sogar zwei Jungs nebeneinander hergehen. Einer im Beşiktaş-
Trikot, der andere im Fenerbahçe-Trikot. Das mag euch jetzt nicht so wichtig
vorkommen... Aber zwei Fans von den beiden Rivalen, in ihren Shirts,
nebeneinander, friedlich im Gespräch ... ein zuvor undenkbares Bild! Heute sprachen
wir mit einer Mutter und ihrer Tochter. Die Tochter kam gerade aus Ankara zurück
und erzählte, sie habe gestern Abend gesehen, dass ein junger Mann am Arm
verletzt worden war und blutete. Eine Frau mit Kopftuch sagte: "Was machen sie nur
mit uns?", nahm ihr Kopftuch ab und gab es ihm, um seinen Arm zu verbinden.
Was auch unglaublich überwältigend ist, sind die Topf-mit-Löffel-Konzerte jeden
Abend um neun. Es begann vor ein paar Tagen, dass Leute von zuhause aus ihre
Solidarität zeigen wollten. Sie standen an ihren Fenstern und schlugen mit Löffeln
auf Töpfe, Siebe, Kannen, was immer Lärm macht. Nun wurde dazu aufgerufen,
jeden Abend um 21h das gleiche zu tun. Vorgestern klopften Freundinnen von mir
wie wild, gemeinsam mit einigen Nachbarn, mit denen man sonst nie viele Worte
wechselt. Sie riefen sich danach zu:"Yarın aynı zaman görüşürüz!"- Morgen um die
gleiche Zeit sehen wir uns wieder! Und heute, ich bin gerade wieder zuhause, weil
ich morgen eine Klausur schreiben muss, stand ich mit meiner Schwiegermutter auf
dem Balkon und wir klopften wie wild. Aber nicht nur wir. Die gesamte
Nachbarschaft. An fast jedem Fenster stehen Menschen mit ihrer Kücheneinrichtung!
Dazu schalten die Menschen ihre Lichter immer an und aus. Es sieht wundervoll aus
und klingt phantastisch! Autofahrer, die nun mal eben gerade keine Töpfe zur Hand
haben, hupen, Fußgänger pfeifen. Gänsehaut, 15 Minuten lang! Und es wurde bisher
jeden Abend lauter.
Was auch sehr schön ist, sind die Sprüche, die auf Schildern stehen, an Wände
gesprüht werden oder gepostet. Ein Schild sagte: "Thanks Tayyip, for making me feel
at home! A Syrien refugee."
An einer Wand stand gesprüht: "Liebe Polizei, warum habt ihr uns zum weinen
gebracht? Wir waren auch vorher schon emotional genug." Oder (Das Tränengas
heißt auf türkisch Biber Gazı) "Just in Biber"
Was auch wunderbar war, wurde auf Twitter gepostet. Erdoğan behauptet ja ständig,
dass es lediglich eine Randgruppe ist, die auf der Straße demonstriert. Und jemand
hat gepostet: "Ich laufe mit einer Gasmaske durch die Straße und trage eine
Schwimmbrille. Oh mein Gott, ich bin eine Randgruppe!"
Nun ja, all diese schönen Momente und diese grenzübergreifende Solidarität sind es,
die alle immer wieder auf die Straße bringen. Es sind wieder Tausende im Park und
auf dem Platz. Leider wurde in der Nähe wieder Gas geworfen und die Auswirkungen
sind bis dorthin zu spüren. Zum ersten Mal seit zwei Nächten muss man nun auch im
Park wieder Masken und Schwimmbrillen tragen, nicht nur in Beşiktaş, wo es
übrigens auch gerade jetzt wieder kracht. Ich weiß auch nicht warum ich wieder mal
gerade nicht dort bin, sondern zuhause, anstatt im Park wie gestern die halbe
Nacht... Vielleicht ist es doch das Nazar Boncuğu, das Yalın mir schenkte bevor ich
nach Palästina gereist bin, das mich immer wieder vor den gefährlichsten Situationen
bewahrt...


Mittwoch, 5. Juni 2013 11:49
Hallo,
irgendwie geht mir so langsam die Energie aus zu schreiben, glaube ich … Vielleicht
aber auch, weil gestern der Tag so lange war und so seltsam normal anfing. Ich hatte
ja zuhause übernachtet und es war sehr komisch, weit weg vom Park aufzuwachen.
So ganz normal zur Uni zu fahren und dort Bürokratisches für meinen
Erasmusaufenthalt zu tun.
Die Unis konnten nichts an der Planung für die Abschlussklausuren ändern, aber
jeder konnte sich entschuldigen lassen und eine Nachholklausur schreiben, wenn er
in den Protesten beteiligt ist und daher nicht lernen konnte. Wir waren dennoch ein
paar Leute gestern, aber hauptsächlich die ausländischen Studenten, die höchst
wahrscheinlich bei der Nachholklausur schon nicht mehr hier sein werden. Meine
Dozentin war untröstlich, dass sie nichts am Termin der Klausur ändern konnte und
wollte auch, zumindest formal, eine echte Klausur aufsetzen. Aber: „Ich habe sie
wirklich ganz einfach gemacht und wenn ihr was nicht wisst, hebt einfach die Hand
und dann helfe ich euch!“ Zusätzlich dazu hatte sie uns auch noch Gebäck und
Kirschen mitgebracht! Wenn das nicht die süßeste Dozentin der Welt ist, weiß ich
auch nicht weiter.
In meinem anderen Kurs, der „Power and Inequality“ hieß und sich eigentlich das
ganze Semester theoretisch mit dem befasst hat, was wir praktisch hier nun erleben,
kam eine Frage per Mail, zu den Vorkommnissen. Wir können sie von zuhause aus
beantworten. Im Park erzählte mir gestern jemand, es habe wohl auch eine Klausur
gegeben mit der Frage: „Was ist die Reaktion von Zitrone auf Tränengas?“
Wunderbar!
Im Park habe ich nun endlich ein Video machen können, in dem alle „Bella Ciao“
singen. (Siehe Anhang u.a., wenn's denn klappt...) Außerdem wurde dort eine kleine
Bücherei aufgebaut und Leute sitzen davor und lesen. Ein Garten wurde auch
angelegt. Mit Avokado, Tomaten und …. tata: Pfeffer! Es ist wirklich schön. All die
Verkäufer haben sich der Situation mehr als angepasst. Schutzmasken werden ja
nun schon seit Tagen an jeder Ecke verkauft. Aber das Sortiment hat sich
vergrößert. Zu den Schutzmasken werden auch die Occupy-Masken verkauft,
Schwimmbrillen und einige haben dazu noch Bauhelme und Trillerpfeifen im
Angebot. Überall auf dem Platz und im Park gibt es Hilfstationen, an denen Essen
und die wichtigsten Dinge gegen Gasattacken verschenkt werden. Jeder kann was
dorthin bringen oder eben mitnehmen. Eine dieser Stationen wurde vor dem
Starbucks aufgestellt, in dem ich noch am Freitag eine Ladung Gas abbekommen
hatte. Davor hängt ein Pappschild auf dem in Edding geschrieben steht: Wasser,
Süßes, Schwimmbrillen... Meine Güte, hier läuft wirklich alles anders jetzt. Und das
witzigste ist, es ist schon total normal.
Es gibt auch Stimmen, die Angst davor haben, dass das Ganze in eine Art Spaß-
Event kippt und nach wenigen Tagen alles zu Ende ist. Wenn das passieren sollte,
hätten mit größter Wahrscheinlichkeit alle, die auf Twitter oder fb etwas gepostet
haben, was der Regierung nicht gefällt, ein riesiges Problem. Dann könnte es zu
Verhaftungen deshalb kommen. Soweit wir es gestern mitbekommen haben, wurde
in Izmir schon 16 Leute wegen ihrer Twitter-Meldungen verhaftet. Das weiß ich
allerdings nur von fb und kann nicht meine Hand dafür ins Feuer legen. Es ist aber
sehr gut möglich. Es ist also unendlich wichtig, weiterhin Druck auf die Regierung
aus zu üben, damit irgend eine Änderung erreicht wird. Dass eine Entschuldigung
ausgesprochen wird, Verantwortliche ihr Amt niederlegen müssen, oder oder oder.
Aber es muss was passieren, sonst könnte es hier wirklich schlimm enden.
Ich glaube allerdings nicht, dass der Protest hier einfach aussterben wird. Es wird
sicherlich ein bisschen kleiner werden, aber nicht aussterben. Bei den meisten
Menschen im Park ist immernoch der Protest das Thema Nummer 1 und es kommen
immer kreativere und schönere Ideen zum Vorschein, diesen auszudrücken. Und
meist kommt ja dann doch irgendwann wieder Gas herein geweht. Spätestens dann,
wenn alle ihre Masken und Schwimmbrillen aufsetzen, weiß wieder jeder ganz
genau, warum er dort ist. Gestern war es so um 2 Uhr morgens wieder soweit.
Aber bitte, berichtet ihr auch alle weiter was hier geschieht! Vor allem auch, dass es
in Izmir, Ankara, Adana und vielen anderen Städten sehr blutig und wie es scheint
noch viel brutaler als in Istanbul zugeht. Das Interesse darf vor allem auch im
Ausland nicht versiegen!
Maria
P.S. Hier noch die Übersetzungen (grob...) für drei der Fotos:
„Keep calm and Erdoğan bi sus lan“: Keep Calm und Erdoğan, halt's Maul
"Tayyip istifa" - "Tayyip, tritt zurück"
Dann das Schild mit der längeren Aufschrift in rot geschrieben, über all den blauen
Zetteln:
„Verehrter Tayyip, wann und wo wir uns küssen werden, miteinander schlafen
werden, wie viele Kinder wir bekommen werden, sind Entscheidungen von meinem
Mann und mir, wir fragen dich nicht!!!
(Gez.)Türkische Frauen“

Mittwoch, 5. Juni 2013 21:21
Danke Germo :-)
Also, nun hier: https://vimeo.com/67728017


Freitag, 7. Juni 2013 00:40
… noch ein paar Links … vor allem für jene ohne facebook:
Der Chor meiner Uni hier hat ein Lied zum Thema gedichtet und im Park
vorgetragen:
http://www.youtube.com/watch?v=ecKOSTAo9Io
Erasmus-StudentInnen haben ein Solidaritätsvideo gedreht:
http://www.youtube.com/watch?v=m0YcEUHxTuY&feature=share
Artikel über andere Teile der Türkei. Sehr interessant:
http://www.haaretz.com/news/middle-east/istanbul-feels-like-a-carnival-but-theprotests-
are-violent-in-turkey-s-provinces.premium-1.528039
Artikel von einem Krimi-Autor aus Istanbul. Wie sieht er die Sache. Sehr schön:
http://www.morgenpost.de/politik/ausland/article116869907/Wir-Greise-haben-uns-inder-
Jugend-geirrt.html

 

Donnerstag, 6. Juni 2013 19:12


Meine Lieben,
gestern haben wir uns zum ersten Mal wieder mit den Swing-Leuten getroffen.
Eigentlich war es erst genau eine Woche zuvor, dass wir noch gemeinsam einen
schönen Blues-Abend verbracht hatten, aber es wirkte dennoch wie eine Ewigkeit.
Ich freute mich unendlich alle wiederzusehen. Und vor allem, alle wohl auf zu sehen!
Wir hatten uns verabredet, um ein Video zu drehen. Es gibt online eine Reihe von "I
Charleston ..."-Videos, die von den Swing-Szenen verschiedener Städte
aufgenommen wurden. Wir hatten hier eigentlich eine Choreographie gelernt und
wollten daran noch länger üben, um dann I Charleston Istanbul aufzunehmen. Aber
auf Grund der gegenwärtigen Vorkommnisse wurde das über den Haufen geworfen
und nun wird es ein I Gas Istanbul Video geben! Wir alle beim Charleston in
Gasmasken und Schwimmbrillen. Shim Sham am Taksim Platz, Charleston vor einer
Barrikade, Solo-Charleston-Jam vor der Bus-Barrikade. Kurz vor dem Shim Sham
war ich noch unsicher, ob ich in Tanzstimmung bin. Das hat sich aber mit der ersten
Bewegung umgehend geändert! Natürlich bin ich in Tanzstimmung! Denn: "it isn't my
revolution if I can't dance it!" (Emma Goldmann) Es ist unsere Form des Protests.
Nach brennenden Augen und Hustenanfällen ist es wichtig, mit Freude und schönen
Dingen dabei zu bleiben. Zu zeigen, dass man da ist und da bleibt. Und, oh mein
Gott, hat das gut getan! Die Bewegung, die Musik, das Drehen und Springen! Eine
Weile wurde alles aus dem Kopf gewirbelt! Kopf frei und doch was zum Protest
beigetragen. So muss es sein! Sobald das Video fertig ist, werde ich den Link
natürlich weiterleiten.
Dann kam heute...
Ich sollte eigentlich am Montag meine Aufenthaltsgenehmigung abholen. In einem
der größten Polizeipräsidien hier. Dazu war ich mental am Montag auf gar keinen
Fall in der Lage. Aber da ich am Samstag für 10 Tage ausreisen werde, musste ich
dort vorher unbedingt noch hin. Denn ohne den blöden Wisch würde mein
Studenten-Visum verfallen, was zu Problemen mit Uni und Erasmus-Bürokratie
führen würde. Also bin ich mit meinem Mann heute rein, in die Höhle des Löwen.
Ich muss schon sagen, ich bin erstaunt wie gut ich zunächst meine Gefühle aus
meinem Gesicht verbannen konnte und statt dessen freundlich lächelnd all den
Polizisten gegenüber trat. Ein bisschen lächeln hier, ein bisschen flirten dort ... bloß
nicht die echten Gefühle an die Oberfläche lassen.
Nach erfolgreicher Mission holte ich noch einen Tee für uns in der Kantine. Überall
wimmelt es von Menschen in Polizeiuniform. Viele sind in meinem Alter oder auch
jünger. Neben mir an der Kasse steht ein Mann in Jeans und grünem Poloshirt. Unter
dem einen Arm hat er zwei schwarze Schlagstöcke geklemmt, die ein bisschen
aussehen wie Schwerter. In der anderen Hand hält er ein Eis und er unterhält sich
und lacht ausgelassen. Ich muss sagen, dieses Bild hat mich auf der Stelle
umgehauen. Der Kloß im Hals war riesig und ich musste unendlich hart mit mir
kämpfen, damit ich nicht in Tränen ausbreche. Dieses unfassbare Arschloch. Wie
kann er da mit diesen Schlagstöcken stehen, Eis essen und lachen, so als wäre
nichts passiert? Ich konnte meine Tränen zügeln, aber um meine Gesichtszüge
konnte ich mich beim besten Willen nicht auch noch kümmern! Ich will nicht mal
wissen, wie ich ihn angeguckt habe. Er hat mir ein bisschen verwirrt hinterher
geschaut. Draußen frage ich meinen Mann, ob wir bitte sofort gehen können. Er will
wissen warum und die erste Träne läuft. Er sagt: "Reiß dich zusammen! Du bist 30
Jahre alt!" Weil er Angst hat, dass ich wirklich anfange zu heulen, in Mitten all dieser
gelassenen Polizisten. Wie sie alle dort sitzen, Eis essen, Tee trinken, lachen und
telefonieren. Auch sie sind auf fb unterwegs... Also reiße ich mich zusammen und
trinke ebenfalls Tee.
Ich bin irgendwie auch fasziniert von dem Anblick. Da sind lauter Männer
verschiedenen Alters, die sich ganz normal verhalten. Sie reden mit Freunden am
Telefon, lachen mit Kollegen. Genießen die Sonne, oder meiden sie im Schatten.
Alles ganz normal.
Was wäre, wenn sie nicht diese Uniform tragen würden? Wenn sie nicht die Macht
inne hätten, die diese Kleidung mit sich bringt. Ich meine, klar, irgendwie ist es ja
auch eine Lebensentscheidung diesen Beruf auszuüben. Es ist also schon ein
bestimmter Schlag Mensch, wahrscheinlich. Aber wären sie in einem anderen Beruf,
wären sie dann auch unter den Leuten im Park, die sich gegenseitig helfen? Würden
sie dann vielleicht doch auch die Solidarität mittragen? Aber wenn das so ist, warum
legen sie dann diese Kleidung nicht ab, diesen Beruf nicht nieder? Es ist zu groß für
meinen Kopf. Es will einfach nicht rein passen. Ich kann es nicht verstehen. Wie
können sie all diese Gewalt ausüben und dann Eis essen und lachen? Völlig sorglos
ihre Pause verbringen?
Naja, verstehe das wer will. Ich geh wieder in den Park.
Maria

Freitag, 7. Juni 2013 02:06
Die 2.Runde ist eingeläutet.


Gerade ist er am Flughafen angekommen und hat seine Rede gehalten. Nach einer
langen zähen Einleitung sprach er davon, dass die Demonstranten den Boden der
Demokratie und der Legalität verlassen hätten ... (sitzen im Park ist natürlich höchst
illegal) und dass sie sofort gestoppt werden müssen. Wenn alles was zuvor passiert
ist, seiner Meinung nach auf dem Boden der Demokratie passierte, dann will ich nicht
wissen, was er gegen "Vandalen", die sich in illegalen Gefilden bewegen
unternehmen wird ...


Samstag, 8. Juni 2013 10:21
was passiert, wenn sich alle selbst organisieren


Meine Lieben,
in wenigen Stunden werde ich für 10 Tage nach Deutschland fliegen, zur Hochzeit
meiner besten Freundin!
Daher erst mal die letzte Mail mit erster Hand Informationen.
Zunächst möchte ich euch einen unglaublich schönen Link zeigen:
http://www.youtube.com/watch?v=o-kbuS-anD4&feature=youtu.be
Diese Gruppe habe ich in meinen ersten Wochen hier mit meinen Schwiegereltern
live gesehen. Sie heißen 'Türkische Geschwister' (o.ä.)
Sie singen türkische, armenische, kurdische, griechische etc Lieder. Dazu hatten sie
auf dem Konzert Tänzer, die die verschiedenen Volkstänze vorführten.
Sie stehen für ein friedliches Zusammenleben aller Gruppen in diesem riesigen Land.
Nun haben sie ein Lied zum Protest gedichtet! Mit engl. Untertiteln!
Es ist einfach herrlich! Die Topfklappersache kennt ihr ja schon. Das mit den
Pinguinen kommt daher, dass CNN Türk in den ersten Tagen eine Pinguin-Doku
zeigte, statt davon zu berichten, dass wir uns alle in einer Gaswolke befinden. Daher
sieht man nun überall Pinguin Bilder oder sogar T-Shirts.
Den Ideen sind keine Grenzen gesetzt.
Gestern waren wir wieder im Park. Jedes Mal, wenn man mal einen halben Tag nicht
dort war, gibt es wieder was Neues! Es ist unglaublich!
Es gibt nun ein Kinderbetreuungszelt, eine autonome Uni, ein Fernseher überträgt
von Protesten aus anderen Städten. Es gibt Gezi Park TV.
Auf fb wurde nun sogar ein Lageplan vom Park veröffentlicht, damit man die
Essensausgaben oder den Yogakurs findet ;-)
Jeden Abend um 21 Uhr wird es so richtig laut im Park. Denn, neun Uhr ist Lärm-
Zeit. Von zuhause mit Töpfen, im Park mit Klatschen,
Pfeifen und Rufen. 3 Minuten wahnsinnige Lautstärke. Wir sind noch da! Und dann
geht alles wieder seinen Gang.
Alles ist immer super entspannt. Jeder räumt seinen Müll weg. Es hängen auch
Schilder dort, dass man seinen Müll und die Zigarettenstummel nicht einfach liegen
lassen soll. Außerdem, so heißt es andernorts, sind sexistische und homophobe
Slogans auf dem Gelände nicht erwünscht!
Alles reguliert und organisiert sich ganz wunderbar. Ohne Anführer. Man sucht sich
eine Aufgabe, gründet eine neue Gruppe oder arbeitet bei bestehenden Projekten
mit... Alles steht voller Zelte, aber es wurden natürlich auch schon Ausgangsschilder
aufgehängt, falls man mal nicht mehr weiß wohin. Und manch einer hat seinem Zelt
eine Hausnummer verpasst, zur besseren Orientierung. Wie es eine Freundin in
einer Mail schön beschrieben hat, der Park ist wirklich eine nicht endende Quelle der
Energie! Die Quelle des Wiederstandes!
So, auf zum Flughafen!
Maria
P.S.: Auf dem Bus vorne steht 'Außer Dienst'


Donnerstag, 13. Juni 2013 01:36
Von Deutschland aus


Meine Lieben,
ich bin zwar gerade nicht mehr in Istanbul, aber durch Yalın habe ich noch ein
bisschen was erfahren.
Es geht ihm übrigens gut und auch er wird morgen für ein paar Tage nach
Deutschland kommen.
Wir fühlen uns ein wenig komisch hier zu sein, bzw her zu kommen, wissen aber,
dass es wichtig ist.
Wie Yalın es heute schön ausgedrückt hat: "Wir sind ja hier schließlich auf der
Straße, weil wir nicht wollen, dass er unser Leben diktiert. Wenn wir jetzt nicht zu
dieser Hochzeit gehen würden, würde er ja schon wieder unser Leben diktieren."
Weise Worte. Das wollen wir natürlich nicht. Und so sind wir hier :-)
Yalın war gestern Nacht im Park, als die Polizei den Taksim Platz räumte. Er
berichtete, dass immer wieder kleine Feuer auf dem Platz ausbrachen, die von der
Polizei heldenhaft mit den Wasserwerfern gelöscht wurden. Diese Feuer brachen
jedes Mal ein Stückchen näher am Park aus... It's Magic!
Der Gouverneur sagte wohl, all die Familien und "braven Bürger" sollen bitte, bitte
den Park verlassen und nach hause gehen! Der Rest sei dann eine Randgruppe und
diese würde die volle Macht der Regierung dann zu spüren bekommen. Als die volle
Macht der Regierung den Zeitpunkt für gekommen hielt, dass nur noch Randgruppen
vor Ort seien, war zum Beispiel noch eine ca. 50-jährige Frau im Park, die gerade
frisch gekocht hatte für die Demonstranten. Sie hatte eine große Kiste mit Dolma
(Reis in Weinblättern) und ähnlichem dabei. Sie sagte, ihr würde es nun zu brenzlig
und sie würde wieder nach hause gehen. Sie ließ aber ihre noch warmen
Köstlichkeiten zurück, zur Stärkung für die Demonstranten. Erdoğan fährt nun
scheinbar auch medial eine andere Schiene, denn das ausblenden der Proteste war
ja nach hinten losgegangen. (Der Pinguin ist mitlerweile zum Wahrzeichen des
Protests geworden, nachdem am 31.05. eine Pinguin-Dokumentation auf CNN Türk
lief, statt einer Berichterstattung) Siehe Foto :-) Statt dessen zeigten die Medien nun
ganz besonders, wie gefährlich die Lage am Platz und im Park ist. Wahrscheinlich,
damit Verwandte die Demonstranten nach hause rufen. Es war wohl auch jeder/jede
ständig am Handy und musste Verwandten erklären, dass er/sie bleiben wird. Auch
erzählte Yalın, dass es sich die Leute im Park nicht mal mehr zur Ruhe ermahnen
mussten, wenn Gaskanülen neben ihnen landeten. Sie gingen einfach weiter weg
davon. Und alle machten einen Durchgang, sobald Verletzte hindurch getragen
werden mussten. Das Divan Hotel gab wieder mal Raum für Verletzte, oder einfach
schlichtweg Erschöpfte. (siehe Bild)
Und die schönen Dinge, die dieser Protest hervorbringt reißen nicht ab. Trotz aller
Gewalt. Ein Pianist aus Berlin hatte ein Konzert auf dem Taksim Platz:
https://www.youtube.com/watch?v=YI6gBtdaEys&list=PLNGCjtM6kNQY9-
EYbvtoBOcxpHrg48oAS
https://www.facebook.com/photo.php?v=10151692019452177
Außerdem gibt es ein Album mit 70 Gezi Park Songs auf bandcamp.com
http://capulcular.bandcamp.com/album/apulcu-ark-lar
Ein Video, in dem Menschen im Park interviewed werden. Eine Frau sagt, sie hat
immer gesagt "wenn ich das noch erleben kann..." und nun sei sie 67 und sagt, dass
sie hier an diesem Ort und in diesem Moment auch gerne sterben könnte. Da musste
ich natürlich wieder weinen... (bei dem Pianisten natürlich auch...) Oh man, wenn ich
nicht vor Ort bin, bin ich so schrecklich nah am Wasser gebaut...
https://www.facebook.com/photo.php?v=414169628696185
Und nochmal ganz genau: Was ist chapulling: https://www.facebook.com/photo.php?
v=10151948964502802
Für jene, die mich fragten, was können wir tun:
http://whatcanidoforturkey.blogspot.de/
Das dritte Foto zeigt eine Ballettaufführung auf der Bühne im Park. Ist aber schon
einige Tage alt.
Die Fotos habe ich natürlich diesesmal nicht selbst gemacht, sondern von fb kopiert,
um euch daran Teil haben zu lassen.
Liebe Grüße
Maria

 

Sonntag, 16. Juni 2013 21:47


Hallo!
Nein, ich bin noch nicht zurück in Istanbul. Erst Mittwoch. Aber eine Freundin hat drei
Mails geschickt. Von Freitagabend bis heute sind die Ereignisse gut
zusammengefasst.


Ich leite die Mails hier an euch weiter:
14.06. Betreff: holt eure kinder aus dem park


Die 24 Stunden, innerhalb derer der Park geräumt werden sollte, sind mal wieder um
und alles steht. Vor allem die Polizei. 15 Busse zähle ich, als ich vor einer Stunde am
Taksim-Platz entlang gehe. 15 Polizeibusse und drei Wasserwerfer und zwar nur am
Atatürk-Denkmal. Auf der anderen Seite des Platzes noch mehr Wasserwerfer.
Hinter dem Kultur-Zentrum stehen auf einem Parkplatz nochmal doppelt so viele
Polizeibusse. Reine Machtdemonstration.
Auf der anderen Seite des Parks wo meine Position ist, sind bisher nur 3
Polizeibusse und ein Wasserwerfer. Der Halk-Döner-Laden, der zu Zeiten der
Barrikaden noch seine Tische auf der Straße hatte und voll war von Demonstranten,
bedient nun wieder die Polizisten. Die müssen sich auf Grund der schlechten
Versorgung ihr Essen meistens selbst besorgen.
(http://www.guardian.co.uk/world/2013/jun/14/turkish-police-inhuman-workconditions)
Nach außen hin versucht sich Erdoğan demokratisch abzugeben, signalisiert
Gesprächsbereitschaft und bietet einen faulen Kompromiss mit dem Referendum.
Doch die Repressionen, Hetzen und Lügen gehen weiter: der Gesundheitsminister
kündigt Ermittlungen gegen Ärzte an, die im Park Verletzte versorgt haben und auch
den wenigen Fernsehsender, die über die Proteste berichtet haben, wird mit
Schließung gedroht. (unter anderem: siehe Bianet) Es gibt über 4000 Verletzte seit
Beginn der Proteste und vier Tote. Auch für die vielen Tiere ist es nicht schön.
Hunde, Katzen und viele Vögel sind schon gestorben.
Doch es gibt auch immer wieder schöne Momente. Donnerstagabend wurde
verkündet, dass Mütter und Väter ihre Kinder aus dem Park holen sollen, da es zur
Räumung kommen kann doch spontan finden sich Mütter auf dem Platz ein,
bilden eine Menschenkette zwischen Polizei und Demonstranten und rufen
„Überall sind Mütter, Überall ist Widerstand“. Minuten nach diesem Aufruf gibt es
im Netz einen Aufruf an die Familien der Polizisten der Aufforderung Erdoğans
nachzukommen und ihre Kinder nach Hause zu holen. Gegen 23h gestern Nacht
wurde endlich ein Treffen mit Leuten der Taksim-Solidaritäts-Plattform und Erdoğan
organisiert, ein kleines Wunder. In der Nacht bleibt es ruhig und der Pianospieler ist
die ganze Nacht auf dem Platz. Als es in den Morgenstunden zu regnen beginnt,
wird eine riesige Plane organisiert, unter der das Musizieren weiter geht.
Zurzeit wird im Park darüber diskutiert, wie nun weiter vorgegangen werden kann.
Morgen um 10h soll es ein Pressestatement der Plattform geben. Ich hoffe, dass es
bis dahin ruhig bleibt. Denn das ist es zumindest in Istanbul grade.


16.06. (14.29 Uhr)

Gas im Gezi Park


Gestern nach dem Abendruf des Muezzins wird der Park von der Polizei brutalst
gestürmt. So viele friedliche unbewaffnete Menschen sind im Park, viele Kinder
darunter. Ich bin bei einer Freundin als es los geht, wir hatten nicht damit gerechnet.
Von Freund_innen werden wir informiert, statten uns aus und ziehen los. Sehr weit
kommen wir nicht, da kommen uns schon die ersten Menschen mit Gasmasken
entgegen. Als wir in der Kneipe ankommen wo Freund_innen von uns sind, ist dort
eine kleine Krankenstation eingerichtet. Leute werden mit Talcid versorgt, ihnen wird
Luft zugefächelt. Die, die Wasser aus den Wasserwerfern abbekommen haben, sind
an den Stellen knall rot und die Haut ist wie verbrannt. Es müssen Chemikalien mit
ins Wasser gemischt worden sein. Alle sind auf den Straße, immer wieder kommt
Gas aus allen Richtungen. Es ist wie ein Kriegsszenario.
Hier ist ein sehr guter Artikel aus Der
FaZ:http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/krieg-gegendemonstranten-
tuerkische-polizei-raeumt-gezi-protestlager-12222979.html
Ich bin mit einer Freundin unterwegs, wir wollen einen Freund finden, der gerade erst
in Istanbul angekommen war und den wir schon verloren haben. Doch auch er sitzt
irgendwo fest, kommt nicht bis zu uns durch. Er findet in einer Hotelbar namens
„Mama Shelter“ Zuflucht. Einen passenderen Namen gibt es wohl nicht. Auch wir
kommen nicht zu ihm durch. Ich komme bei einer Freundin unter, ans Nachhause
gehen ist nicht zu denken. Zu nah ist meine Wohnung am Divan Hotel, der Weg
dorthin zu unsicher. Auch die Polizei scheint unsicher zu werden. Sie fordert die
Gendarmerie (Innenministerium) zur Unterstützung.
http://www.hurriyetdailynews.com/gendarmeries-water-cannon-trucks-called-forreinforcement-
in-istanbul.aspx?pageID=238&nID=48879&NewsCatID=341
Denn auch heute sind es nicht nur Wasserwerfer und Gas, auch andere
Chemikalien, Lärmbomben und Plastikgeschosse werden eingesetzt. In Hotels
(divan + hilton sind direkt bei mir um die Ecke) und Krankenhäuser, die ihre Türen für
Flüchtende öffnen, wird Gas geschossen. Die ganze Nacht hindurch kommt es zu
Angriffen. Wieder finden Festnahmen statt. Wieviele Anwält_inne, Journalist_innen,
Ärzt_innen, Demonstrant_innen mittlerweile in Haft sind ist unklar.
Der Park ist nun komplett abgeriegelt, die Polizei hat alles vernichtet. Gärten, Zelte,
Essen, Kunst-Projekte, Krankenstationen, Bücherei, Plakate... alles wird mit
Räumfahrzeugen weggeschafft und der wunderschöne Ort Gezi zerstört.
Das brutale Vorgehen der Polizei löst eine erneute Welle des Protestes aus. Von
überall her machen sich nachts Menschen Richtung Taksim auf. Tausende wollen
wieder über die Brücke strömen. Der Mut der Menschen ist unglaublich. Sie wissen,
dass es um ihr Leben und ihre Freiheit geht.
In einer halben Stunde um 16h ist eine Demonstration am Taksimplatz angekündigt.
Zeitgleich soll Erdoğan etwa 15km entfernt eine Rede vor AKP-Getreuen halten.
Auch heute wird es wohl keine ruhig Nacht.
Hier noch ein ZDF Beitrag von gestern Nacht
http://www.youtube.com/watch?v=Q2Or3siw5fo

 

16.06. (18.49 Uhr) Infos

Medienvertreter wurden gestern teilweise daran gehindert den Park zu betreten und
zu berichten, die türkischen Medien sprechen von einer ruhigen Räumung und 40
Verletzten. Auch Angehörige des Parlaments wurden von der Polizei körperlich
angegriffen. Die Angehörigen der Menschen die festgenommen wurden, wissen
nicht, wohin sie gebracht wurden. Die dem Wasser hinzugefügte Substanz ist
wahrscheinlich Jenix, eine Art Pfeffergas. Der EU Minister der Türkei verkündete,
dass alle die in Taksim eindringen wollen als Terroristen gelten und als solche
behandelt werden.
http://www.hurriyetdailynews.com/police-to-consider-protesters-in-istanbuls-taksimsquare-
terror-organization-members-minister.aspx?
pageID=238&nID=48875&NewsCatID=338
Ein Interview mit Claudia Roth, die gestern bei den Ereignissen im Park dabei war,
fasst nochmal gut die Ereignisse zusammen.
http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-06/claudia-roth-traenengas-interview
https://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=K3zkqZnXBwA
Während mit dem Einschränken des Schiffsverkehrs, Barrikaden und hartem
Vorgehen der Polizei alles dafür getan wird, dass Demonstranten den Taksimplatz
nicht erreichen können, werden für AKP Anhänger extra fein geschmückte Fähren
bereitgestellt und sie werden mit Bussen direkt von zu Hause abgeholt. Erdoğan
hingegen behauptet, er könne seine Anhänger jetzt nicht mehr zu Hause halten...
Gerade versammelte sich eine Gruppe von Demonstrierenden in meiner Straße um
zu überlegen wie es weitergeht, überall ist was los grad. Eine Freundin schreibt bei
ihr werden Barrikaden aufgebaut, eine andere schreibt in ihrer Straße hat sie
Menschen mit Milch versorgt und jetzt kommt das Gas auch in unsere Straße.
Es wird eine lange Nacht.

 

Dienstag, 18. Juni 2013 15:34

 

Hallo,
seit wir am Sonntagmorgen, nach einer schönen und langen Hochzeitsfeier noch vor
dem ersten Schluck Kaffee die Nachricht von dem heftigen und stundenlangen
Angriff der "Sicherheitskräfte" (klar, so kann man das auch nennen) auf den Gezi
Park und den Taksim Platz hörten, stand folgende Überlegung im Raum: fliegen wir
zurück, oder bleiben wir hier?
Wie wird sich die Lage weiter gestalten, was ist überhaupt passiert, wie geht es
Freunden und Familie?
Ich kann eure Sorgen um uns, die einige von euch und viele auf der Hochzeit zum
Ausdruck brachten sehr gut verstehen, teile auch manche davon. Ich bin euch sogar
dankbar für diese Sorgen, denn sie zeigen Mitgefühl und Verbundenheit. Ich möchte
nur eines gerne sagen: Sorgen haben ist ganz richtig und normal. Habe ich Sorge
um meine Ankunft in Istanbul in der Nacht und Angst vor der Passkontrolle? Ja, habe
ich. Aber das ist höchstwahrscheinlich ein wenig paranoid. Dennoch ist es da.
Seite | 20/
Wovon ich aber ganz definitiv Abstand nehmen möchte, ist folgende Erklärung, die
ich des Öfteren hörte. Dass ich nicht zurück gehen sollte, da ich Deutsche bin und es
daher nicht "mein Kampf" ist und ich mich auf Grund der fehlenden türkischen
Staatsangehörigkeit, eines anderen Passes, nicht in Gefahr bringen müsse oder
solle.
Ich sehe das so: "Home is where the heart is".
Und mein Herz ist im Moment voll und ganz mit jenen Freunden, die sich im Protest
in Istanbul befinden. Bei den Menschen, die ich zwar erst 3 Monate kenne, mit denen
ich aber dennoch, ob nun vor oder während des Protestes, viele wunderschöne
Momente und Freude geteilt habe. Mit denen ich über Vergangenes genauso wie
über Wünsche oder Ängste, die eigene Zukunft betreffend sprach. Wir sind uns
näher gekommen, haben uns lieb gewonnen. Es ist für mich unendlich egal wie
unser Pass aussieht, oder welcher "Nation" wir uns zugehörig fühlen. Darum geht es
nicht. Es geht um gemeinsame Erlebnisse und gemeinsame Ziele, die man nun
erreichen möchte.
Mein Mann ist schon wieder in Istanbul, wo es derzeit sehr ruhig scheint. Ich werde
heute Abend zurück fliegen. Dort wo wir leben, ist sowieso nicht von sehr viel Gefahr
auszugehen und ich werde euch alle auf dem Laufenden halten. Denn auch das
kann ich nur, wenn ich dort bin. Nur so kann man wirklich die Stimmung spüren und
wirklich verstehen, wie es um den Protest steht. Würde ich hier bleiben, würde ich
durchgängig Nachrichten schauen und online Informationen sammeln und mich völlig
verrückt machen. Vor Ort kann man auch die gute Stimmung miterleben und
Gespräche führen, wie es weiter gehen soll.
Keine Sorge, ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich mit meiner Anwesenheit in
Istanbul nicht "die Welt retten kann" und dass dies auch nicht meine Aufgabe ist.
Aber ich habe Istanbul für dieses Jahr als meinen Lebensstandort gewählt und
dadurch, dass mein Herz eben schon in der ersten Woche in den Bosporus gehüpft
ist, ist dies sehr wohl auch "mein Kampf", so wie es eines jeden "Kampf" sein sollte,
der sich wünscht, dass sich jeder Mensch sein Leben so gestalten kann, wie er/sie
es für richtig hält.
Liebe Grüße
Maria

 

Montag, 24. Juni 2013 21:09


Hallo allerseits!
So sehr es mich auch freut, dass dieser Verteiler stetig gewachsen ist, muss ich aber
doch mitteilen, dass ich in der nächsten Zeit wohl eher weniger schreiben werde.
Es wird immer schwieriger für mich, aktiv an den Protesten teilzunehmen. Also,
körperlich nehme ich schon teil, aber in dieser neuen Phase geht es eben darum zu
diskutieren, Meinungen auszutauschen und neue Wege zu finden. Dafür reicht mein
Türkisch einfach bei Weitem nicht aus... Es ist wirklich schade. Darum schicke ich
euch heute einfach Fotos von einem Treffen im Park in Beşiktaş.
Am Samstag waren wir wieder auf eine Hochzeit eingeladen. Während die Band
fröhliche Tanzmusik spielte, erreichte uns die Neuigkeit, dass die Polizei wieder mal
eine Demonstration zerschlägt. Es war eine riesige Demo gegen Homophobie. Sie
endete am Taksim Platz und wurde dort zu einer Gedenkfeier für die vier Todesopfer
des Protests. Alle sollten Blumen mitbringen und taten das auch. Dann wurde der
Platz wieder von Polizisten mit Gas und Wasser gestürmt. Ich stellte mir die Bilder
vor, untermalt von der fröhlichen Hochzeitsmusik, inmitten von weiß gedeckten
Tischen um einen Swimming-Pool. Was für eine absurde Situation. Ich muss sagen,
ich war tatsächlich kurz davor dieses bescheuerte Nazar Buncugu wegzuwerfen,
draufzutreten oder was auch immer. Ich habe es so satt immer davon zu kommen.
Nicht dass ich scharf drauf wäre, Gas und Schlagstöcke abzukriegen … Aber es ist
ein beschissenes Gefühl, immer im richtigen Moment, im wahrsten Sinne des Wortes
„auf einer anderen Hochzeit zu tanzen“ während alle andere Gas essen. Oder, wie in
Palästina, super tief zu schlafen, während andere mit einer Waffe vor der Nase
geweckt werden.
Aber, keine Sorge, ich habe mich wieder beruhigt und das Nazar Boncugu jeden Tag
an.
Auf der Hochzeit wurden dann auch Capulcular-Lieder gespielt und natürlich auch
Bella Ciao :-)
Heute erreichten uns noch einmal schlechte Nachrichten. Am 12. Juni starb in
Ankara einer der Demonstranten durch die Polizeigewalt. Ethem Sarisülük. Der
Polizist, der ihn auf dem Gewissen hat wurde heute freigesprochen. Der Grund: er
hätte aus Notwehr gehandelt. Meine Fresse, was für ein Schlag in unser aller
Gesichter. Kann man nur hoffen, dass hier doch irgendwann noch Gerechtigkeit
Einzug hält und die Verantwortlichen Konsequenzen spüren.
Ich muss sagen, so sehr ich auch den Weg der Gewaltfreiheit beschreiten möchte,
es ist doch schwer. Ich bin zwar weit davon entfernt, einem Polizisten wirklich
körperlichen Schaden zufügen zu wollen, aber wenn ich sie sehe, habe ich meine
Gesichtszüge nicht unter Kontrolle. Ich kann nicht zu mir sagen, es sind ja auch nur
Menschen, die Befehle ausführen, bla bla bla. Alles was ich fühle ist die pure
Verachtung. Ich kann nichts anderes als Verachtung für einen jeden einzelnen in
dieser beschissenen Uniform aufbringen. Obwohl ich weiß, dass es nicht jeder
einzelne verdient hat und diese Gefühle ihnen auch noch mehr Kraft und
Rechtfertigung verleihen. Aber die charakterliche Größe, darüber zu stehen ist mir
leider doch noch sehr fern. Ein Freund von Yalın hat mich vor einer Weile sehr
beeindruckt. Wir waren auf dem Weg zu einer Freundin und gingen an einigen
bewaffneten Polizisten vorbei. Kamen vom, damals noch wunderbar gefüllten Park.
Als wir vorbei gehen und mein Gesicht wahrscheinlich wieder nichts als Hass
ausdrückt, sagt dieser Freund: „Kolay gelsin!“ und lächelt. Es heißt so was wie „möge
dir die Arbeit leicht fallen“ und ist ein gängiger Ausdruck hier. Das, tut mir ja leid, ist
wirklich das aller letzte was ich zu einem Polizisten hier sagen möchte. Aber dieser
Freund sagt zu mir: „Das ist ja unsere einzige wirkliche Waffe, Maria. Am Anfang war
ich auch nur wütend und voller Hass. Aber genauso wollen sie uns ja sehen. Unser
einzige Chance ist es, ihnen zu zeigen, dass wir nett sind und keinem was Böses
wollen. Vielleicht wachen so einige von ihnen auf.“ Wow. Ja, wie Recht er hat. Das
gleiche hatte auch Daoud in Palästina gesagt. Immer freundlich sein und nett
grüßen. Das bring sie am meisten aus dem Konzept. Denn sie wollen ja einen
aggressiven Feind in dir sehen. Theoretisch habe ich das alles auch verstanden.
Aber, Alter, ist das schwer in die Praxis umzusetzen.
Nun ja, während ich das alles schreibe ist es hier wieder neun Uhr und das Klappern
der Töpfe geht wieder los. Ich stehe auch eine Weile auf dem Balkon und klappere
mit. Beobachte wie im Haus gegenüber nach und nach mehr Menschen mit Töpfen
in den Fenstern erscheinen. Es ist immer wieder schön zu sehen und zu hören. Nach
und nach steigen auch die Autofahrer wieder mit ihren Hupen mit ein. Man kann
wirklich die Uhr danach stellen!
Liebe Grüße
Maria

 

Sonntag, 30. Juni 2013 13:07


Hallo,
es ist wirklich alles gerade sehr seltsam hier irgendwie. Man schwebt zwischen Alltag
und Protest. Aber der Alltag ist eben nicht mehr so wie zuvor, ebenso wenig der
Protest. Im Alltag fühle ich mich manchmal zu wenig „revolutionär“, im Protest auch
manchmal fehl am Platz.
Ich habe jetzt einen Job gefunden, in einer kleinen süßen Bar nahe des Taksim
Platzes. Dort ist gerade recht wenig los. Denn die einen trauen sich vielleicht gerade
nicht in die Gegend, die anderen sind abends bei den Versammlungen im Park und
wieder andere fühlen sich eben noch fehl am Platz, bei einem Bier in der Bar … Mein
Chef dort ist Kurde und politisch sehr engagiert. Die Bar hat laaange geöffnet und bei
wenigen Gästen haben wir viel Zeit zum quatschen. Das ist wirklich alles sehr
interessant. Während meiner letzten Schicht saßen wir ewig mit einem Gast
zusammen, der auch Kurde ist, ursprünglich aus der Gegend von Gaziantep, nahe
der Syrischen Grenze. Sie sind gespalten in ihrer Meinung über Direngezi. Zum
einen sind sie hoffnungsvoll, dass sich dadurch vielleicht wirklich etwas im
Zusammenleben in der Türkei ändern wird. Zum anderen sind sie wütend. Sie sind
wütend, dass die Kurden hier über so viele Jahrzehnte ihre Sprache nicht sprechen
dürfen, ein viel härteres Leben haben, ständige Opfer der Polizeigewalt sind und
ermordet werden, während sich niemand dafür interessiert hat. Sie nur als
Terroristen betitelt wurden.
Und dann wird im Park Gas gesprüht und auf einmal sind alle empört und wehren
sich, sprechen von unverhältnismäßiger Polizeigewalt und sagen, wir sind alle
Brüder. Vor allem das macht sie skeptisch. Sie hoffen, dass die Demonstranten es
so meinen, aber sie können sich einfach nicht vorstellen, dass sich diese Menschen
über Nacht so sehr verändern können. Mein Chef erzählt von einem Beispiel, als er
in der Istiklal Caddesi einen Informationstisch hatte. Es ging um ein 13-jähriges
Mädchen, dass vergewaltigt wurde. Sie sammelten Unterschriften. Nicht selten
hörten sie, dass sie ja Kurdin war und damit eine Terroristin. Das Interesse war
allgemein eher gering. Nun hören sie ständig, wir sind alle Brüder. Ich kann die Wut
schon nachvollziehen. Dennoch sage ich ihnen, dass ich erlebt habe und ganz fest
daran glaube, dass sich hier im letzten Monat in den Köpfen der Menschen unendlich
viel verändert hat. Ich glaube auch, dass nun Menschen, die zuvor zwar
unwillkürlichen Polizeikontrollen und gewalttätigen Polizisten ausgesetzt waren, nicht
deren wirkliche Gewalt fürchten mussten, so wie es die Kurden mussten. Doch nun
bekommen auch sie einen Großteil der Gewalt und der absoluten Skrupellosigkeit zu
spüren und sie wissen nun, was es bedeutet, wenn man von der Regierung als
„Terrorist“ eingestuft wird. Nichts anderes als die Lizenz zum Töten, ohne das
Gesicht zu verlieren. Und ich hoffe und glaube, dass es einen riesigen Unterschied
macht, ob man das theoretisch zwar weiß, oder es aber selbst erfährt. Wissen und
fühlen sind zwei unterschiedliche Dinge. Erst wenn man es selbst fühlt, hat man es
wirklich verstanden. Wir sitzen also gemeinsam bei einem Bier und hoffen alle drei,
dass es wirklich so ist. Dass diese Brüderlichkeit, die es jetzt in den Protesten gibt,
bleibt. Dann hätte die Bewegung schon so viel erreicht, wie keine Partei im Spiel der
Realpolitik es je erreicht hat. Dann wäre schon viel gewonnen, egal wie das alles hier
am Ende ausgeht.
Gestern wurde zu einem erneuten Protest am Taksim Platz aufgerufen. Als wir um
19 Uhr dort ankommen, steht die Polizei schon überall bereit. In voller Montur. Es
gibt eigentlich sieben Straßen, die vom Taksim Platz wegführen. Fünf davon sind von
der Polizei und den TOMA blockiert. Es gibt also nur 2 Auswege, sollte es wieder
losgehen. Auf dem Platz wird mir bewusst, wie sehr ich schon nicht mehr im Protest
bin … Hose ohne Taschen, voller Rucksack, nur ein schlechter Mundschutz,
Schwimmbrille vergessen. Du meine Güte, wo waren nur meine Gedanken bei der
Vorbereitung zuhause? Mein Mann gibt mir seinen Helm, der als Baseball-Mütze
getarnt ist. Ich bin erleichtert, denn irgendwie habe ich schon ein bisschen Angst vor
einem Gasbehälter am Kopf. Wir setzen uns alle hin und hören einer Kundgebung
zu. Davon verstehe ich ja leider wieder fast nichts. Ich singe aber bei den
Sprechchören mit. Einige kann ich wirklich, bei manchen denke ich mir nur:
„Hauptsache der Schluss stimmt“. Es verläuft alles friedlich. Wir gehen zwischendrin
sogar einen Kaffee trinken und treffen uns noch mit anderen Freunden. Punkt neun
geht natürlich das Klappern und Klatschen los. Also gehen wir irgendwann nach
neun Uhr zurück zum Platz. Wir stehen in einer der beiden AusgangsStraßen, etwas
am Rand. Dann bewegt sich auf einmal die Masse auf dem Park. Es wird hektisch.
Aber was ist da los? Gas sehe ich nicht. Nur ein TOMA bewegt sich, aber er spritzt
kein Wasser. Trotzdem fangen alle das Laufen an. Wir müssen notgedrungen
mitlaufen. Wovor laufen wir denn nun wirklich weg? Vor der Polizei oder vor der sich
zu schnell bewegenden Masse? Irgendwann biegen wir in eine SeitenStraße und
laufen in eine der offenen Türen. Denn alle Haustüren summen wieder. Die
Solidarität ist noch immer da. Wir sitzen mit ca. 10 Leuten im Hausflur auf der Treppe
und überlegen, was wir machen sollen. Unsere Freunde haben wir verloren. Mein
Mann und ich rätseln noch immer, was denn nun eigentlich wirklich los war. Wir
telefonieren mit den Freunden. Es scheint alles klar zu sein. Die Luft ist rein. Wir
gehen also zurück zum Platz. Ein Freund zeigt uns seine Fotos. Aha, kein Gas, kein
Wasser, sondern Schlagstöcke. Ja, das konnten wir von unserer Position aus nicht
sehen. Die Polizei ist aber nicht etwa „weich“ geworden. Gestern begann die
Jahresversammlung der OSCE (Organisation for Security and Co-operation inEurope) in Istanbul. Es war also ein schlechter Zeitpunkt, um Gas oder eine Wasser-
Chemie-Mischung auf seine Mitbürger zu werfen. Der Protest wird am Abend immer
kleiner, bleibt aber im Kleinen noch lange aktiv. Polizei vor dem Atatürk-Denkmal, vor
der Polizei singende Demonstranten. Ein seltsames Spektakel. Noch seltsamer ist
es, in die Istiklal Caddesi zu gehen. Dort ist „business as usual“. Es ist voll,
Menschen sitzen in Restaurants und es läuft schrecklichste Partymusik … Wirklich,
der Protest ist auch nicht mehr was er mal war … Es ist irgendwie surreal.
Liebe Grüße
Maria


Sonntag, 7. Juli 2013 15:21
Müde und leer …


Hallo, meine Lieben!
Erstmal: Keine Sorge, es geht uns gut!
Wie ihr vielleicht schon mitgekriegt habt, war hier gestern wieder einiges los ... Am
Nachmittag gab es, wie auch schon letzte Woche, eine Wasserschlacht auf dem
Taksim Platz. Es soll die Wasserwerfer verarschen. Viele Menschen nahmen daran
mit Wasserspritzpistolen oder ähnlichem teil. Wir wollten erst um 19 Uhr auf dem
Platz sein, zur wöchentlichen Kundgebung und Demo auf dem Platz. Doch während
wir, so gegen 18.40 Uhr, noch Richtung Taksim laufen, kommen die ersten SMS von
Freundinnen bei mir an: ‘Seid ihr da? Gehts euch gut?’ Klares Zeichen dafür, dass es
wieder losgegangen ist. Ich frage also ein bisschen nach. Wer weiß was? Es war
wohl sehr voll auf dem Taksim Platz, ausgelassene Stimmung. Dann sollen alle
gehen und die Polizei greift durch. Später am Abend sehen wir im Fernsehen, wie
ein TOMA (Wasserwerfer) und Polizisten mit Schildern die Menschen vom Platz
schieben. Alle lehnen sich gegen den TOMA, also ob man ihn einfach stoppen
könnte. Mit Gas und Wasser werden dann doch alle in die Istiklal Straße getrieben.
Als wir an einer Kreuzung ca. 500 m entfernt vom Taksim ankommen, sitzen dort
einige Demonstranten mit Banner. Auf der anderen Seite der Kreuzung stehen einige
Polizisten, lehnen sich gemütlich auf ihre Schilder. Wir sitzen, sie stehen. Eine
Freundin steht ca. 500 m Luftlinie weiter rechts, am anderen Ende des Gezi Parkes.
Von dort kann sie den Taksim Platz sehen. Sie sagt, dort ist alles voller Gas,
Menschen laufen in ihre Richtung weg. Ein Mann wird von der Polizei mit
Schlagstöcken verprügelt. Als alle anderen ‘buh’ etc. Rufen, laufen die Polizisten mit
Schlagstöcken auf sie zu. Alle werden vertrieben und auch die restlichen Straßen
werden von der Polizei abgeriegelt. Meine Freundin schreibt auch noch, dass
Männer mit Messern auftauchten, die aber nicht verhaftet wurden. Auch später im
Fernehen sehen wir, dass einer dieser Männer einer Frau mit dem Messer auf den
Oberschenkel schlägt und sie in den Rücken tritt, als sie sich beschwert. Es ist ein
Messer in der Grösse einer Machete. Ein Polizist kommt und scheucht ihn weg. Das
schlimmste für mich an dieser Szene war, die Art und Weise, wie er weggescheucht
wurde. Mit einem kleinen Schulterklopfer und so, als wäre er nur ein ungezogener
kleiner Junge. Es wirkt ein bisschen wie ‘ey Kumpel, lass das hier mal grad gut sein.
Da drüben ist eine Kamera.’
Nun ja, an unserer Kreuzung überlegen wir uns unterdessen, dass wir nach Cihangir
gehen wollen, um quasi von der anderen Seite zum Taksim hochlaufen zu koennen.
Denn dort ist ein Wohnviertel, in dem auch Freunde von uns leben. Da koennen wir
zur Not unterkommen, falls es zu schlimm wird. Kurz später ziehen sich die Polizisten
uns gegenüber die Helme und Masken an. Zeit zu gehen.
In Cihangir sind sehr viele Demonstranten in den kleinen Straßen um den Platz
unterwegs. Alle singen die üblichen Slogans, jeder packt die Gasmasken aus. Man
macht sich bereit. Menschen in den Wohnungen unterstützen uns mit Töpfeklappern.
Dabei ist es erst 20 Uhr. Meine innere Uhr gerät fast aus dem Gleichgewicht J Kurz
später geht es los. Gasbomben werden geworfen und Knallbomben. Die sind
wahnsinnig laut und machen mir am meisten Angst. Obwohl sie natürlich eigentlich
das ungefährlichste sind. Man duckt sich, läuft ein paar Straßen weiter. Dann geht
man langsam wieder zurück, schaut, wie es aussieht. Ich hatte schon völlig
vergessen wie es brennt, das verdammte Gas. Trotz guter Gasmaske brennt mein
Rachen wie verrückt und sofort sammelt sich all meine Spucke in meinem Mund. Die
Schwimmbrille wirkt allerdings Wunder. Meine Augen bleiben verschont. Dann knallt
es wieder. Wir laufen wieder in die nächste Straße. Eine Frau mit einem kleinen Kind
auf dem Arm kommt eine Treppe herauf und ruft ‘Bitte darf ich schnell vorbei, hier ist
ein Kind!’ Sie verschwindet im nächsten Hauseingang. Wir nutzen die offene Tuer
und setzen und kurz in den Hausflur. Ich höre noch, wie die Frau zu dem weinenden
Kind sagt: ‘Du musst keine Angst haben, mein Süsser, die machen nur eine Party!’
Es ist wirklich unfassbar, was hier passiert. Ich meine, auf dem Taksim Platz Gas zu
werfen ist eine Sache. Aber in einem Wohngebiet mit solch kleinen Straßen ... In
denen eben auch kleine Kinder und alte Menschen leben ... Was zum Teufel denken
die sich eigentlich? Wir gehen wieder auf die Straße. Dann sehe ich eine gut
formierte Polizeieinheit die Straße herunter marschieren. ‘Sie kommen!’ rufe ich und
wir rennen alle in die umliegenden Straßen. Eine kleine Gruppe Demonstranten lässt
uns mit in ihre Wohnung. Luft wieder rein, wieder auf die Straße. Es ist alles sehr
seltsam. Durch das viele Weglaufen hat sich unsere Gruppe zerschlagen und wir
machen aus, uns alle bei dem Freund in der Wohnung zu treffen. Dort beobachten
wir aus dem Fenster was passiert, drücken gelegentlich den Türöffner, damit
Demonstranten in den Hausflur können und sehen all die Dinge im Fernsehen, die
ich am Anfang schon beschrieben habe. Dann marschiert ein Polizeitrupp durch die
Straße. Aus den Fenstern erklingen Buhrufe und Töpfe klappern. Die Polizisten
reagieren nicht darauf. Sie marschieren runter. Sammeln sich. Marschieren wieder
hoch und biegen in eine andere Straße ein. Es ist so seltsam. Als wir wieder raus
gehen, ist irgedwie alles vorbei. Es sitzen noch Demonstranten in den Straßen rum,
tragen aber keine Masken oder Helme mehr. Manche trinken Bier. Ich verstehe
wirklich gar nichts mehr. Wie, jetzt ist alles vorbei? Was ist denn hier nur los? Es
heisst auch, dass der Taksim Platz wieder frei und ruhig ist. Also gehen wir dorthin,
um von dort nachhause zu fahren. Wir stehen dort rum, überlegen wer, wie, wohin
fährt.
Plötzlich laufen Polizeitrupps an uns vorbei und positionieren sich am Anfang der
Istiklal Straße. Man sieht, dass an der nächsten QuerStraße auch eine Formation
steht und ein TOMA. Auch an uns fährt ein TOMA vorbei, positioniert sich hinter den
Polizisten. Erst steht er in Richtung Straße. Dann dreht er sich irgendwann und ziehlt
in unsere Richtung. Mehrere Trupps laufen an uns vorbei und positionieren sich bei
ihren Kollegen. Aber nichts passiert. Gar nichts. Sie stehen nur in einer Reihe da in
voller Montur und schauen uns an. 2-3 gepanzerte Polizeiwagen fahre in die Istiklal.
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Es passiert immernoch nichts. Dann kommt ein Wagen der Gendarmerie, in
Militärgrün. Steht 2 Minuten neben/zwischen uns und fährt dann wieder weg.
Während all dessen lädt ein LKW seine Ware vor einem Restaurant aus, ein Mann
verkauft Wassermelone und ein anderer versucht uns Çay und Nescafe zu
verkaufen. Es ist der skurrilste Moment, den ich je erlebt habe! Dann ertönt eine
Trillerpfeife und ich zucke zusammen. Denke, das ist vielleicht das Startsignal, bin
sofort bereit abzuhauen. Aber es war nur ein Demonstrant. Ein Freund meint, das
Startsignal sei auch eher ‘dusch!’ Er ahmt das Geräusch des Wasserwerfers nach.
Wir lachen. Ist das alles absurd hier.
Als wir uns endlich entscheiden zum Dolmuş zu gehen und heim zu fahren, läuft
auch der erste Polizeitrupp wieder an uns vorbei zu den Polizeibussen. Der TOMA
fährt noch eine Runde um den Platz und parkt wieder an seinem angstammten Platz.
Was zur Hölle war das?!? Sind das alles Trainingseinheiten für die Polizisten?
Wollen sie Angst machen, so dass die Menschen sich nicht mehr raus trauen? Was
soll das alles? Auch heute bin ich noch kein bisschen schlau geworden aus den
gestrigen Erlebnissen. Es ist wirklich seltsam. Bin gespannt wie es heute dort
aussieht. Wahrscheinlich wieder business as usual. Ich bin verwirrt.
Nun ja, ich muss gleich zur Arbeit und schau mir die Lage von heute mal an.


Montag, 8. Juli 2013 23:17
Ich wieder...
Mein Leben hier ist gerade von mir selbst nicht mehr nachzuvollziehen. Es verläuft in
seltsamen Bahnen, wirklich. Ich befinde mich ständig an Orten, die unterschiedlicher
nicht sein koennten und mein Gehirn kommt nicht nach. Ich fühle mich
wahrscheinlich auch deshalb ‘müde und leer’, wie es auch schon Hannes Wader und
Konstantin Wecker so schön beschrieben haben. Aber ich ‘will’ nicht nur ‘nach Süden
ans Meer’, sondern ich bin da und werde am Freitag auch noch etwas weiter südlich
ziehen für ein paar Tage...
Der Cousin eines Freundes ist der Enkel eines sehr berühmten türkischen Malers,
dessen Name mir leider wieder entfallen ist. Ich habe ihn letzte Woche Samstag bei
der Demo kennengelernt. Und so kam es, dass wir am Donnerstag mit vielen Leuten
bei seinen Eltern (die gerade nicht da sind) in der Villa sassen, Rakı tranken und was
leckeres zusammen kochten. Auf eine Villa mit Pool kam ich erstmal gar nicht klar
und wusste auch nicht so ganz was ich eigentlich da soll. Auch noch in dieser Zeit
und vor allem an einem solchen Ort. Die Villa befindet sich nämlich in einer
sogenannten ‘Gated Community’, also einige Villen, umgeben von einer Mauer und
mit Security am Eingang. Von diesen Orten hatte ich in meinem Seminar mit dem
Titel ‘Power and Inequality’ gehört und nicht viel davon gehalten. Je grösser das
Vermögen von Menschen, desto grösser werden meine Vorurteile. Daran sollte ich
wirklich mal arbeiten! Nun ja, jedenfalls war ich froh, dass auch Freundinnen von mir
dabei waren, die sich zum Grossteil auch nicht sehr wohl in ihrer Haut dort fühlten.
Zunächst ging es uns jedenfalls so. An einem Punkt machte ich dann Protestlieder
an und die Nacht wurde echt noch lustig. Nach einer Übernachtung dort, denn die
Community liegt recht abgelegen, genossen wir dann doch den Pool. In vollen Zügen
sogar. Es war wie ein Urlaub in einem Tag. Und dieser Ort lässt einen irgendwie
auch Zeit und Raum vergessen. Aber ich weiß es noch: es war am Freitag.
Von der Demo am Samstag habe ich ja schon berichtet.
Sonntag war ich in der Arbeit und habe mit meinem Kollegen, der nur Türkisch und
Kurdisch spricht, versucht über Politik und den Protest zu sprechen. Ich glaube es
ist uns auch ganz gut gelungen. Nach dem verrückten Samstag waren natürlich
wieder mal wenig und ab 24h keine Gäste mehr da und wir spielten stundenlang
Tavla und quatschten. So gut mir das auf Türkisch möglich war.
Gegen halb 3 kam mein Mann mit den Freunden von Donnerstag vorbei. Sie wollten
mich zu einer Poolparty abholen. So um 5 konnten wir schliessen, um 6 waren wir im
Wasser. Dieses Hin und Her zwischen Protesten, Kurdischen Themen und nem
Pool hinter ner Villa lähmt meinen Kopf wirklich ungemein. Es ist alles nicht mehr
nachzuvollziehen. Aber ich sagte es bereits.
Ich telefonierte dann mit meiner Freundin und sie sagte, dass sie im heute Mittag
wieder eröffneten Gezi Park picknicken wollen, nach der Arbeit. Also, noch schell
einmal in den Pool, durch das sehr religiöse Stadtviertel (in dem ich mir ausserhalb
der ‘Community’ doch lieber ein Tuch um die Schultern hing, um nicht unhöflich zu
erscheinen) auf der Suche nach Handy-Guthaben und ab nach Taksim. Der Park war
den ganzen Nachmittag über wohl gut besucht gewesen. Für 19 Uhr war ein Forum
im Park angesetzt. Daher war es nicht überraschend, was mich am Taksim Platz
erwartete, als ich gegen 18h dort mit der Metro eintraf. Nichtsdestotrotz war es
unschön.
Links und rechts vom Metroausgang standen Polizisten in voller Montur. Ich wollte
mich mit den beiden Freundinnen eigentlich am Atatürkdenkmal treffen. Das war
natürlich sehr optimistisch gedacht. Davor und drumherum: Polizei. Eingang zur
Istiklal: Polizei. Straße nach Cihangir: Polizei. Alle in ihren schwarzen Plastikpanzern,
die sie aussehen lassen wir Ninja Turtles und ihren weißen Helmen. Ich laufe auf
dem Platz umher und bemerke, dass tatsächlich jede verdammte Straße vom Platz
weg von Polizisten blockiert wird. Ich werde nervös. Ich möchte nicht auf dem Platz
bleiben und schon gar nicht alleine. Mein Mann sitzt gerade in der Metro, wo er
keinen Empfang hat...
Die beiden Freundinnen sind in der Istiklal. Wir verabreden uns in einer Bar um die
Ecke und ich versuche mein Glück, den Platz Richtung Tarlabaşı (parallel zur Istiklal)
zu verlassen. Raus geht ohne Probleme (ich sehe aber auch sehr nach Tourist aus
mit Trägerhemd, Sonnenbrille und Coffee to go und bemühe mich sehr, verloren und
‘fremd hier’ auszusehen). Reingelassen wird niemand mehr. Soviel zur feierlichen
Eröffnung des Parkes, in dem man scheinbar offiziell nur noch spazieren darf und
weder sitzen, noch am Fleck stehen darf. In einem Stück Straße von ca. 500 m
stehen drei Reihen Polizisten, um den Platz abzuriegeln. Kurz nachdem wir an der
Bar angekommen sind, kommen die ersten Menschen aus Richtung der Istiklal
angerannt, weg vom Gas. Wir machen uns auch langsam aus dem Staub. Zum
Glück treffen wir tatsächlich noch auf meinen Mann. Da keiner von uns eine
Gasmaske dabei hat, entschliessen wir uns dazu, zur alten ‘Zentrale’, zur Whg der
Freundin zu gehen. Das ist eigentlich um die Ecke von wo wir uns befinden. Aber da
ja alles hermetisch abgeriegelt ist müssen wir einen rieseigen ‘Spaziergang’ durch
Tarlabaşı machen, um dorthin zu kommen. So verschafft uns die Polizei wenigstens
ein bisschen Bewegung. Wir sind irgendwie alle etwas zerstreut und neben der Spur.
Dieses seltsame Leben, dass wir gerade führen, zwischen Normalität und Wahnsinn
hinterlässt seine Spuren.
Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht mehr, was ich von diesen Aktionen wie der von
heute oder von Samstag halten soll. Der Park war damals der friedlichste und
wundervollste Protest, denn ich je erlebt habe. Aber seit diese Energiequelle weg ist,
weiß ich nicht mehr, ob ich wirklich Teil sein will. Ich meine, warum genau soll ich in
der Straße stehen und Antiregierungsslogans singen und mit Gas beworfen werden?
Ich weiß, dass es wichtig ist, dass der Protest jetzt nicht einschläft! Ich werde auch
wieder hingehen. Aber irgendwie ... ich weiß es einfach nicht. Am Samstag wollte ich
da sein, alles mit Fotos und Video festhalten. Wollte auch im Gas kurz stehen
bleiben, um ein Foto zu machen. Aber heute, so ohne Kamera, hat sich mir einfach
völlig der Sinn entzogen, warum ich jetzt schon wieder Gas essen soll. Es scheint,
als sei die einzige Taktik unsererseits gerade: lasst uns versuchen nach Taksim zu
kommen und uns mit Gas bewerfen lassen, damit alle sehen, wie verrückt die
Regierung ist. Aber das wissen ja jetzt alle. Sollen wir immer weiter einfach nur als
Gasopfer auflaufen? Ich dachte heute schon kurz daran, dass wir uns alle als alte
Leute verkleiden sollten und einzeln, nach und nach in den Park gehen sollten. Denn
der Park soll für alte Leute und Kinder sein, so hiess es heute , und nicht für grosse
Demonstrationen.
Nun ja, zum Abschluss noch ein Link, der sich mit der sich immer und immer
wiederholenden, fast schon überflüssigen Frage ‘ist es eigentlich noch zu fassen?’
einleiten lässt:
http://www.bianet.org/english/health/148326-19-ordered-to-pay-4-500-euros-for-potpan-
protest

Donnerstag 11.Juli 2013 16.20 Uhr
Fotos von der neuen Energiequelle


Es war kurz aber wunderbar! Alle sassen beisammen, unterhielten sich und assen.
Wir klatschten und sangen Slogans. Eine Frau fragte, ob ich Englisch spreche und
wollte wissen, warum alle Klatschen. Ich erklärte es ihr und sie sagte: 'Keep on
protesting! We didn't. And now we don't have anything anymore. No political
freedom. No joy.' Sie kommt aus dem Iran, sagt sie mir. Ich sagte, dass ja vielleicht
doch die Welle auch in den Iran rollen wird. Aber sie glaubt wohl nicht daran. Ich
glaube schon irgendwie daran. Mal sehen, nicht wahr? Bakalım.
Ich werde noch ein paar Fotos schicken. Die sind zu groß für eine Mail.
Maria

 

Donnerstag, 1. August 2013 13:00
Betrifft: tıpkı eski günlerindeki gibi


Gestern gab es seit langem wieder eine Blues-Tanznacht! Den ganzen Tag habe ich
mich darauf gefreut. Fünf Minuten bevor ich losfuhr sagte meine Schwiegermutter,
mit dem Blick auf ihr I Pad: "Sie schießen jetzt im Moment wieder Gas in der Istiklal."
Wir nur alle: "Oh man. Das nervt." Ich zog mir die Schuhe an, sagte tschüss und ging
los. In Richtung Istiklal. Es ist schon so normal geworden, dass ich nicht mal länger
als geschätzte 3 Sekunden darüber nachgedacht habe, zuhause zu bleiben. Es
nahm mir nicht mal mehr die Lust am Tanzen. Es nervt einfach nur noch. Und ich
lasse mir von diesen Spinnern nicht die lang ersehnte Bluesnacht nehmen!
Nur eine Maske und eine Schwimmbrille hab ich noch schnell eingepackt. Für alle
Fälle. Man weiß ja nie.
Am Taksim Platz angekommen scheint alles ganz normal. Völlig absurd normal.
Nicht mehr Polizei als sonst. Und sie hängen auch nur rum dort. Menschen flanieren,
essen Eis. Auch in der Istiklal alles normal. Ich kann nicht mal Gas riechen. Seltsam.
Dann biege ich rechts ab, in die Straße, in der die Bluesnacht stattfindet. Scheint
auch normal zu sein. Menschen sitzen vor den Bars, rauchen und trinken. Doch dann
knallt es und ich sehe in der nächsten Parallelstraße zur Istiklal Menschen mit
Tüchern vor dem Mund und Schutzhelmen auf, Gas hängt in der Luft. Ich gehe an
der Bar, in die ich will, vorbei, um nachzusehen. Nur 10 Schritte. Dann brennen
meine Augen und meine Nase. Ich überlege kurz und entscheide mich dann für das
Tanzen. Scheiß drauf, echt! Es ist so schön zu tanzen! Man sieht an den neu
Hinzukommenden wie es draußen abgeht. Erst tränen die Augen nur ein wenig. Bei
der nächsten die kommt, sind sie schon ein bisschen geschwollen. Keiner ist mehr
aufgeregt deswegen. Nicht mal diejenigen, die geschwollene Augen haben. Es wird
ein Bier bestellt und getanzt. Es werden höchstens Witze darüber gemacht. An
einem Punkt dringt das Gas in die Kneipe ein, bis hinten zu uns auf die Terrasse. Wir
unterbrechen nicht mal das Tanzen. "Hey, Tanzen im Gas! Wie romantisch!" Einer
sagt: "Tıpkı eski günlerindeki gibi!" (Wie in alten Zeiten) Fast alle sagen: "Man, ich
hab das Zeug schon vermisst." Das Gas verschwindet wieder und wir tanzen noch
immer. Es ist eine lange und wunderschöne Nacht und als wir aufbrechen, scheint es
wieder so, als wäre nichts passiert.
Dieses Hin und Her ist zermürbend. Es macht einen so stumpf. Erst als ich heute
lese, warum wieder Gas geworfen wurde, habe ich ein bisschen ein Schlechtes
Gewissen, dass wir eine solch schöne Nacht hatten... Die Polizei vertrieb mit allen
Mitteln eine Pressekonferenz von Eltern eines 14-Jährigen, der von einer
Gaskartusche am Kopf getroffen worden war und schwer verletzt im Krankenhaus
liegt. Die Polizei verhält sich hier so über alle Maßen unethisch, dass ich kotzen
möchte.
http://edition.cnn.com/2013/07/31/world/europe/turkey-parents-police/index.html
Seit der Gezi Park "eröffnet" wurde wurden Menschen schon mindestens 5 mal mit
Gas aus diesem vertrieben oder/und verhaftet. Es hört nicht auf. Natürlich gleich am
ersten Eröffnungstag. Davon hatte ich ja schon berichtet. Als ich um 18 Uhr von
Polizei umzingelt am Taksim Platz stand und nicht wusste, wie ich meine Freunde
treffen soll, die nur ca. 500 m von mir entfernt waren.
Am 20. July wollte ein Paar, dass sich während der Proteste kennengelernt hatte, im
Gezi Park heiraten. Online luden sie alle dazu ein, an der Zeremonie im Park
teilzunehmen. Sie trugen zusammen mit ihrer Hochzeitskleidung auch Schutzhelme
und Gasmasken baumelten um den Hals. Der Hochzeitsgesellschaft wurde
allerdings der Zutritt zum Park verwehrt. Nach einigen Diskussionen wurden
Wasserwerfer und Gas eingesetzt, um die Gesellschaft in die umliegenden Straßen
zu vertreiben. Das Paar schloss aber dennoch die Ehe. Nur eben nicht in Taksim,
sondern in Şişli. Sie verlasen wohl auch während der Zeremonie die Namen der
Verstorbenen.
http://www.hurriyetdailynews.com/gezi-wedding-intervention-adds-to-nationwidetension-.
aspx?pageID=238&nid=51107
Am Sonntag fuhr ich abends nach Taksim, um mit mich mit einer Freundin auf ein
Bier zu treffen. Als ich am Platz mit dem Dolmuş ankam, war wieder der ganze Platz
und auch der gesamte Park schwarz. Alles voller Polizei in Kampfmontur. Ich fragte
mich, was das denn jetzt nun wieder soll und was schon wieder los ist. Ich war etwas
zu früh da und ging eine Runde nachsehen. Die Istiklal Straße war wieder voller
Menschen, die gemeinsam die Iftar feierten. Wieder einmal neben einem
Wasserwerfer und einer Reihe kampfbereiter Polizisten. Aber, dachte ich, das kann's
allein ja nicht sein. Das ist ja Normalität. Aus der Zeitung erfuhr ich am nächsten Tag,
dass einige Menschen ihr Fastenbrechen gemeinsam im Gezi Park abhalten wollten.
Sie wurden alle verhaftet und einige auch vor Gericht gebracht... Sie wurden zum
Glück bereits wieder frei gelassen. http://www.bianet.org/english/religion/148822-
iftar-detainees-released
Noch ein interessanter Artikel: http://www.bianet.org/english/people/148834-policeseizes-
grave-stones-detains-homeless-in-gezi-park

 

Mittwoch, 21. August 2013 11:37
Betreff: zerplatzte träume


Hallo, ihr Lieben!
Es ist ja schon so lange her, dass ich was geschrieben habe.
Wir hatten eine schöne Zeit mit Familienurlaub am Meer. Eine kleine Reise
inbegriffen, damit ich noch ein bisschen mehr von der Türkei sehen kann. Und doch
habe ich nichtmal die Fläche eines Fingernagels dieses riesigen Landes gesehen.
Während wir uns mit Sonne und gutem Essen beschäftigt haben, gab es auch hier in
Istanbul nur einen Gaszwischenfall. Am 2. Samstag im August wurde wild Gas in der
Istiklal geschossen, wahllos auf Passanten. Es muss schlimm gewesen sein und
auch meine kleine Bar (oberstes Stockwerk) war wohl voller Gas. Scheinbar wurde
online eine Demo von 1 Mio. Menschen angekündigt, was aber keiner der Atkiven
getan hat. Meine Vermutung ist ja, dass es ein Erdoğan-Anhänger war, damit
Beyoğlu doch noch stirbt... Denn all diese Vorfälle an den Wochenenden haben der
Gastronomie in der Ausgehmeile #1 Istanbuls einen großen Schaden zugefügt. Und
die Zerstörung dieses Sodom hatte Erdoğan schon seit einigen Jahren verfolgt.
Dann wurde noch das Verbot von Gezi-Slogans in Fußballstadien mehrfach
gebrochen. Zuerst riefen die Fans einfach nur "Slogans, Slogans, Slogans" :-) Dann
kam das erste Beşiktaş-Spiel der Saison! Carsi lässt sich natülich nichts verbieten
und so wurden all die bekannten Slogans wieder ins Stadion gebracht. Nach Carsi
zogen dann auch die Galatasaray-Fans nach.
Seit wir nun wieder hier sind, verbringen wir unsere Zeit damit, durch Stadtteile zu
schlendern, die ich noch nicht kenne. Istanbul ist der Überbegriff für unglaublich viele
grundverschiedene Städte. Es ist unglaublich. Und oft wunderschön! Gestern haben
wir sogar damit begonnen zu träumen. Wir schlenderten durch Kuzguncuk und
suchten uns unser Traumhaus aus, in dem wir gerne leben wollen. Es ist ein
gemütliches Viertel mit bunten Holzhäusern im osmanischen Stil. Kinder spielen auf
der Straße und man hat alle Geschäfte, die man zum Leben braucht um sich. Auch
liegt es direkt am Bospurus und mit dem Schiff ist man in 5 Minuten in Beşiktaş. Die
Mieten nicht mal so teuer... Ach, wie schön haben wir uns das vorgestellt. Was für
ein perfekter Wohnort. Eine kleinstadt mitten in Istanbul.
Und dann zerplatzte all das heute morgen mit einem Blick auf Facebook.
Drei Jungs aus Antalya waren bis Istanbul gelaufen. Einen Justice March für die
Verstorbenen. Der Marsch sollte im Gezi Park mit einer Pressemitteilung enden. Drei
Istanbuler waren auch bei ihnen. Sie wurden vor dem Park gestoppt. Sie setzten sich
vor die Polizisten und wollten nicht gehen. Die Polizei (oh Wunder) legte wieder
richtig los. Es waren 6 Demonstranten und Hunderte Polizisten. Manche schreiben
600 andere 700. Auf jedenfall reicht das Wort "unverhältnismäßig" schon nicht mehr
aus. Sie prügelten und sprühten Gas aus den Gaspistolen, direkt in die Gesichter.
Sie schleiften einen leblos wirkenden Jungen die Treppen hinunter. Einer der Jungs
bekam einen Epileptischen Anfall und die Polizisten erschreckten sich so sehr, dass
sie wegliefen. Ließen ihn und die Verletzten einfach liegen. Diese wurden von
anderen Menshen ins Krankenhaus gebracht.
Tja, tschüss du süßer Traum vom Leben in Kuzguncu. Denn mein Mann hat wohl
recht, wenn er sagt, dass man hier einfach keine Kinder aufwachsen lassen kann
und es sehr egoistisch wäre, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, in Deutschland
aufzuwachsen. Auch wenn ich noch so viel an Deutschland zu kritisieren weiß...
Schade.

Sonntag, 28. Juli 2013 17:24
Hallo, ihr Lieben!
Ich wollte mal wieder von mir hören lassen. Die Proteste sind noch da, aber sind
ruhiger geworden. Es gibt wie gehabt jeden Abend Versammlungen in den Parks,
sogar manchmal im Gezi Park, wie ich gehört habe. Dort war ich allerdings nicht.
Auch gibt es noch immer das gemeinschaftliche Fastenbrechen. Gestern war der
erste Samstag seit langem, an dem zu keiner Demo am Taksim Platz aufgerufen
wurde. Die Kneipenbesitzer in Beyoğlu (Istiklal Straße und drumherum) hatten die
Demonstranten gebeten, es nicht mehr Samstags zu machen, weil sie seit fast 2
Monaten kein Geschäft mehr machen und vor allem nicht, wenn am besten Abend
der Woche immer wieder Gas in den Straßen wabert. Das mag jetzt vielleicht
seltsam klingen, dass es scheinbar wichtiger ist, das Kneipenleben zu haben, als den
Protest. Aber eines der größten Anliegen Erdoğans war in den letzten 2 Jahren,
Beyoğlu zu töten. Ihm war der Alkoholkonsum auf offener Straße ein Dorn im Auge.
Im letzten Sommer sprach er sogar ein Verbot für Tische auf der Straße aus, was
vielen Kneipen schon fast den Todesstoß gegeben hatte. Und auch einer der letzten
Tropfen, die das Fass vor Ausbruch der Proteste zum überlaufen gebracht hatte, war
ja das Alkoholverbot nach 22 Uhr. Es ist also durchaus wichtig, dass nun nicht die
Proteste die Kneipen in den Ruin treiben und somit Erdoğan einen riesen Gefallen
tun. Und so war auch ich gestern mit einem Freund unterwegs. In der
Kneipengegend von Kadiköy. Und zum ersten Mal sein Wochen war es wieder richtig
voll überall. Es war ein schöner warmer Sommerabend und wir konnten fast nirgends
2 freie Stühle finden.
Vor 2 Tagen wurde zu einer Demo von Schwangeren aufgerufen. Das hat folgenden
Hintergrund:
Der Anwalt und AKP Anhänger Ömer Tugrul Inancer sagte während einer Ramadan-
Fernsehsendung auf TRT, es sei unanständig, sich als Schwangere auf der Straße
zu zeigen. Mit einem solch großen Bauch solle man sich nicht zeigen und Frauen
sollten ab dem 7.-8. Monat nur noch zum Luft schnappen raus. Das lässt sich in
Zeiten von direngezi natürlich keine Frau einfach so sagen und kurzerhand wurde es
zu einer weiteren Widerstandsaktion (diren hamile - Schwangerschaftswiderstand).
Schwangere Frauen und Frauen mit Kissen unterm T-Shirt machten sich bereit, um
in Istanbul und Ankara zu demonstrieren.
(http://www.bianet.org/english/gender/148738-direnhamile-resistpregnant ) Das
Thema wird natürlich auch auf facebook aufgegriffen und es gibt viele Fotos und
Videos mit Schwangeren. Ein Beispiel habe ich euch mal angehängt.
Erdoğan möchte gerne einen eigenen Fernsehsender einrichten, der auf Englisch
berichten wird, da er die bestehenden wahrscheinlich des Lügens beschuldigt. Mal
sehen, wie das funktionieren soll... Außerdem wird es nun scheinbar gefördert, dass
Mitbürger andere Mitbürger anzeigen können. Es sollen wohl bald Kästen in
verschiedenen Stadtvierteln aufgestellt werden, in die man anonyme Anzeigen
werfen kann. Falls der Nachbar zuviel mit den Töpfen klappert, sozusagen...
So viel erstmal aus Istanbul, dieser wunderschönen Stadt :-)
E-Mail von Freitag, 30. August 2013 03:09
Betreff: nun noch eine von mir
Ich sitze im Dolmuş in Richtung Taksim und aufeinmal stockt der Verkehr ein wenig.
Der Fahrer flucht und hupt, ebenso der vor uns. Große Aufregung. Ich schaue auf
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und sehe, dass zwei Wagen vor uns ein Auto unendlich langsam fährt. Kein weiteres
Auto vor ihm. Ich denke, schläft er? Ist das Auto vielleicht kaputt und er kann nicht
mehr schneller fahren? Was ist hier nur los? Dann erhasche ich einen Blick auf sein
Nummernschild und muss laut lachen! "Komm mit mir an den Nabel der Welt! Komm
mit mir nach: Bielefeld!" :-) Oh man.
Ich schaue auf den Tacho meines Dolmuşes und finde meine Vermutung bestätigt.
Strich 50 km/h.
Ich schwöre, es hat sich angefühlt wie 20. Oder 10. Dann wird mir bewusst, wie sehr
ich mich scheinbar schon daran gewöhnt habe, dass hier alle rasen wie die
Bekloppten und ich es selbst auch gerne so habe, damit man zum Teufel bald mal
irgendwo ankommt! So!
Dann denke ich, wie es wohl wird, so wieder zuhause. Aber zum Jlück fahr isch ja nit
nach Bielefeld, sondern nach Berlin! Da wird das eingewöhnen schnell gehen :-) Und
dieses Wieder-Eingewöhnen-Müssen kommt schneller als zunächst gehofft. Ich bin
(bzw. war, es war gestern, meine Begechnung mit Bielefeld) auf dem Weg zu meiner
allerletzten Blues-Nacht. Das Geld ist und davon gelaufen und so reisen wir
schweren Herzens mit einem lachenden und einem weinenden Auge am Sonntag
ab. Wir werden langsam zurückreisen, mit einigen Umwegen, denn das letzte was
ich brauche ist, nach 2,5 Stunden von einem BVG-Busfahrer angeraunzt zu werden.
Nun ja, so taumele ich voller Emotionen durch diese zauberschöne Stadt, von
Abschiedstrinken zu Abschiedstanzen, beim Abschiedstanzen von Tanzpartner zu
Tanzpartner in höllischer Geschwindigkeit. Es ist wundervoll! Ich tue mich so sehr
schwer damit "Tschüss" zu sagen, fühle mich wie eine Dramaqueen, weil ich jedem
Menschen und jedem besonderen Ort mit ganz viel Aufmerksamkeit tschüss sagen
will und mich gleichzeitig vor dem Moment fürchte. Und wieder gleichzeitig macht es
das tschüss-Sagen ja so wunderbar. Denn nur mit dem Ende in Sicht ist alles wieder
etwas Besonderes und will eben auch ganz besonders genossen sein.
Gestern war es die letzte Bluesnacht, was mich in einen Freudentaumel versetzt hat,
denn so viele Leute waren schon seit Monaten nicht mehr beim Blues. Es war
unglaublich schön. Heute hatten wir einen Tag voller Glück mit Yalıns Eltern, unter
anderem in Kuzguncuk, unserer geträumten Wahlheimat :-) Siehe Fotos!
Am Abend ein letztes Bier in "meiner" kleinen Bar. Eine letzte Umarmung mit dem
Super-Chef, der mir ein Kurdisch-Wörterbuch geschenkt hat :-) Ein letzter
Spaziergang durch den Gezi Park. Ein letzter Blick auf das Divan Hotel. Das erste
Hotel meines Lebens, mit dem ich eine emotionale Beziehung aufgebaut habe :-) Ein
letzter Swing-Abend. Eine letzte Abschieds-Jam und die wirklich, wirklich letzten
Umarmungen und Gespräche mit den Swing-Leuten.
Und weil es ein solch intensiver Abend der "letzten" Dinge ist, dachte ich mir, dass
ich jetzt eben auch noch diese letzte Mail an euch schreibe. Das war's. Ihr seid erlöst
;-) Meine Zeit hier ist vorbei, Gezi scheint so weit weg wie nie und es gibt erstmal
nichts mehr zu berichten. Ich werde meine letzten Tage hier voll und ganz mit der
Family verbringen.
Ich freue mich schon unendlich auf euch alle!!! Bis ganz bald!!
Maria