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Erfahrungsbericht Palästina

Weitere Fotos findet ihr ganz unten.

(Diesen Text habe ich 2010 geschrieben und damals habe ich noch nicht gegendert.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Oktober 2009 war ich fünf Tage in Israel und zwei Wochen in Palästina.
Ich habe im Tent of Nations bei der Familie Nassar gearbeitet, die seit 1991 gerichtlich um ihr Land kämpft und die internationale Präsens dazu nutzt, Soldaten und auch Siedler davon abzuhalten ihr Land zu zerstören oder sie gleich ganz zu verscheuchen.
Die West Bank war zuerst unter der Besatzung des osmanischen Reiches, dann unter Britischem Mandat, danach gehörte es zu Jordanien. Seit dem Sechs-Tage-Krieg ist Israel nun die Besatzungsmacht.
Die internationalen Volontäre sollen der Familie auch dabei helfen, das Gesetz einzuhalten,
das noch aus osmanischen Zeiten stammt. Dieses Gesetz besagt, dass man sein Land an den
Staat (Sultan) verliert, wenn man es über den Zeitraum von fünf Jahren nicht kontinuierlich
bewirtschaftet.
Durch verschiedene Methoden, erschweren israelische Soldaten oder Siedler deshalb die
Arbeit von Bauern, um so an das Land zu kommen.

Die West Bank ist seit den Oslo-Friedensverhandlungen in drei Zonen, A, B und C, aufgeteilt.
A bedeutet, dass dieses Gebiet unter vollständiger palästinensischer Kontrolle steht. Zone B
wird von Palästinensern regiert, doch von israelischem Militär kontrolliert und in den CZonen
hat allein Israel das Sagen.
Der Dasher’s Vineyard, wie sich das Land der Familie Nassar nennt, befindet sich
in der Zone C.
Deshalb müssen sich die Nassers immer wieder neuen Anweisungen beugen, die verlangt
werden, um den Beweis zu erbringen, dass dies ihr Land ist. Und das, obwohl der Großvater
es 1916 erworben hat und sowohl alte osmanische Urkunden als auch britische Urkunden das
belegen.
140.000 Dollar hat sie das ganze „Vergnügen“ seit 1991 schon gekostet, was sie durch
Spenden und dem Verkauf ihrer Produkte in einem kleinen Laden erarbeiten.
Ich schreibe diesen Bericht nicht, weil ich eine politische Aussage machen will, oder weil ich
denke, dass ich jetzt, wo ich in Palästina war, alles verstanden habe, was dort vor sich geht,
oder weil ich einen Lösungsvorschlag geben kann. Ich kann nur davon schreiben, was ich
erlebt und dabei gefühlt habe.
Ich habe auch das Gefühl, politisch noch viel weniger zu verstehen als zuvor!
Wie zum Beispiel, können beim „Fest der Freiheit“ - Feierlichkeit am Brandenburger Tor
zum 20. Jahrestag des Mauerfalls - Merkel, Clinton, Brown und Sarkozy große, pathetische
Worte schwingen, wenn sich zwei von Ihnen demonstrativ gegen den Goldstone-Bericht
stellen und die anderen beiden sich der Stimme enthalten haben?
Einem Bericht, der Israel der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit
anklagt.
Ich weiß es nicht.


Wie kann es sein, dass sogar bei einem hoch offiziellen „Fest der Freiheit“ dem Dominostein
der palästinensischen Jugendlichen der Name Israel aufgezwängt wird, ihnen selbst hier ihre
Nationalität nicht zugestanden wird?
Ich weiß es nicht.


Wie kann es sein, dass mir jahrelang gepredigt wurde, besonders wir Deutschen haben die
Pflicht darauf aufzupassen, dass ein solches Verbrechen an der Menschheit nicht noch einmal
geschieht, wenn sich eben dieses Deutschland dann immer wieder auf die Seite Israels stellt?
Ich weiß es nicht.


Es ist mir klar, dass die Vergangenheit alles verkompliziert. Dennoch, es ist mir unbegreiflich.
Also, ich kann keinen politische Analyse schreiben, ich kann nur davon erzählen, was ich gesehen und gefühlt habe.
Ich bin nach Israel gereist, um mir mein eigenes Bild von dem Konflikt zu machen, über den
man eigentlich jeden Tag einen Bericht in der Zeitung finden kann. Und sei es nur ein kurzer.
Wollte sehen, ob man den Presseberichten Glauben schenken kann.
Natürlich hatte ich einige Bedenken, was die Sicherheit auf meiner Reise betrifft und habe
mich immer wieder dafür oder dagegen entschieden, diese Reise überhaupt anzutreten.
Zunächst war ich Touristin in Jaffa und Jerusalem, wo ich nicht nur positive Erfahrungen
machte. An meinem ersten Abend in Jerusalem war ich sogar wahnsinnig ängstlich, habe
geweint und mich gefragt, was ich hier eigentlich will. Und was ich mir wieder einbilde, dass
ich solch eine Reise überhaupt alleine schaffen kann.
Ich traf aber eine liebe Deutsche, mit der ich die nächsten 2 Tage in Jerusalem verbrachte. Zu
zweit kann man über vieles dann schon lachen, was einem alleine unangenehm wäre.
In dieser höchst religiösen Stadt war ich auf den Spuren Jesus’ unterwegs und war in
Gedanken viel mit den üblichen deutschen Schuldgefühlen beschäftigt.
Die Klagemauer an Shabbat zeigte mir viele Gläubige Juden und wie dieser Glaube zelebriert
wird, der, durch die Geschichte, in Deutschland so fremd geworden ist.
Auch an christlichen Stätten fühlte ich mich wie ein Eindringling, da ich, durch zu wenig
Wissen und Glauben, nicht die gleichen überwältigenden Gefühle teilen konnte, die die
anderen um mich herum zu haben schienen.
Am dritten Tag in Jerusalem, nach einer Besichtigung des so umstrittenen Tempelberges, fuhr
ich also Richtung West Bank.
Die Angst kroch wieder in mir hoch, als Katharina und ich uns vor dem Hostel trennten. Tief
in mir wusste ich schon, dass es mit Sicherheit sehr schön bei der Familie Nassar wird, wenn
ich erst einmal dort angekommen bin, aber mulmig war mir eben doch.
Mein Stolz hat mich aber weiter getrieben. Wer bricht schon nach nur 5 Tagen eine Reise
wieder ab!?
Kaum war ich an der riesigen Mauer vorbei, durch den Check Point hindurch, waren alle
Menschen auf einmal wahnsinnig lieb und hilfsbereit!
Der Taxifahrer folgte wild hupend dem Bus nach Bethlehem, um mein verlorenes Handy
wieder zu holen, kaufte mir und Kindern seiner Freunde Schokolade und Apfelsaft. So
wurden mit meinen vier Euro, die ich ihm zahlte und was das Vierfache von dem war, was ich
hätte zahlen sollen, alle von uns glücklich.
Er brachte mich mit dem Auto bis zu dem Roadblock – einem von israelischer Seite gelegten,
die Straße versperrenden Felsblock - und zu Fuß begleitete er mich bis zu dem gut
verriegelten Tor der Familie Nassar. Er war in den letzten vier Tagen, der erste Mann, der mir
wirklich nur helfen wollte und nicht sonst irgendwas im Hinterkopf hatte.
Und die vier Euro mögen zu viel gewesen sein, aber für mein Handy und diesen Service sind
sie für mich durchaus angemessen und gut investiert.
Amal schloss mir das Tor auf und führte mich zum Haus. Eines der beiden genehmigten
Gebäude auf ihrem eigenen Land. Die Zone C verbietet ihnen auch, auf ihrem eigenen Land
Häuser zu bauen, ohne eine Genehmigung von israelischer Seite. Und die ist nicht leicht zu
erhalten. Eigentlich dürften nicht mal die Zelte des „Tent of Nations“ stehen. Daoud hat
versucht eine Genehmigung für die Zelte zu erhalten. 1.000 € kostete ihn das erfolglose
Unterfangen. Es hieß, die Zelte sollten unverzüglich abgebaut werden, sonst käme das
israelische Militär mit Bulldozern und würde es selbst in die Hand nehmen. Natürlich würden
die Kosten einer solchen Militäraktion zu Lasten der Familie Nassar gehen.
Auf Grund dieser Schwierigkeiten wird viel unterirdisch gebaut, damit man neue Räume
nicht sofort von den umliegenden Siedlungen aus entdecken kann.
Wir gingen einen staubigen Weg herauf, vorbei an dem Stein mit der Inschrift:

„Wir weigern uns, Feinde zu sein“.
Das Motto des Weinbergs.
Ich fühlte mich sofort wahnsinnig wohl und der Blick ins Tal gab mir zum ersten Mal seit
Wochen eine ersehnte Ruhe. Was das Schlimme an diesen Häusern im Hintergrund ist, habe
ich erst im Laufe der zwei Wochen wirklich begriffen.
Der Weinberg ist umgeben von 3 riesigen Siedlungen, die im Laufe der nächsten Jahre
wahrscheinlich miteinander verbunden werden sollen, was die Familie komplett einkesseln
würde.
Sollte die Mauer vollendet werden, wird die Farm auf einem der 555 Quadratkilometer liegen,
die von palästinensischem Land gestohlen werden. Das heißt, die Familie würde auf
israelischer Seite leben und dürfte nicht einmal mehr nach Bethlehem zum Einkaufen fahren
und wäre so komplett auf sich selbst gestellt.
Hoffnung ist wichtig und stirbt bekanntlich zuletzt. Dennoch darf man die Realität nicht aus
den Augen verlieren und daher bleibt der Familie nichts anderes übrig, als sich auf das
Schlimmste vorzubereiten.
Deshalb bauen die Volontäre fleißig Gewächshäuser, unterirdische Ställe für die Tiere, graben
Höhlen aus, um im Winter auch warme Schlaf- und Besprechungsräume zu haben und bauen
vor allem auch Zisternen. Zwei davon sind schon vollendet, eine wird gerade fertig gestellt
und eine wurde von uns, im Schweiße unseres Angesichts ausgegraben.
Im Lauf gegen die Zeit ackerten wir wie die blöden, um sie noch vor dem ersten Regen fertig
zu stellen, der hoffentlich bald kommt.
Ja, in der West Bank lernt man Regen wirklich zu schätzen. Denn, während die Siedlungen
ringsherum Swimmingpools besitzen und ein riesiger Wasserturm mit einem blauen
Davidstern darauf auf dem Nachbarhügel tront, dürfen die Palästinenser nicht einmal
fließendes Wasser haben. Duschen darf man daher nur einmal die Woche und das am besten
nur für eine Minute.
Palästinenser dürfen sich 2 – 3 Mal pro Woche Wasser kaufen und in diesen Kanistern auf
den Dächern speichern. Die Kanister werden nicht selten von Siedlern zerschossen, die finden, dass das Land eben nicht den jeweiligen Familien gehört, die es gerade bewohnen.
Sondern es „State Land“ ist und eigentlich dazu dienen sollte die Siedlungen ausbauen zu können. Eine aggressive Reaktion von Seiten der Palästinenser hilft dann durchaus sogar, denn „bösen Terroristen“ kann man das Land viel schneller wegnehmen als anständigen freundlichen Nachbarn. Um noch mehr Wasser zu sparen, wurde eine Kompost-Toilette gebaut, die wie ein Plumpsklo fungiert und kein Wasser benötigt. Sie ist wirklich nett eingerichtet und weitaus schöner und sauberer als manch andere Toiletten.
Und während die Siedlungen nachts zu einem wahren Lichtermeer werden, dürfen
Palästinenser auch keine Elektrizität besitzen. Wir hatten von 17.30 Uhr bis 22 Uhr Strom, da
eine deutsche Firma diese Solarzellen gesponsert hat.
Wirklich, selbst für mich, nach so kurzer Zeit dort wurde es immer schwerer an meinem
vorherigen Willen, Brücken zu bauen, statt Steine zu werfen, fest zu halten.
Aber ich habe es versucht und auch die anderen immer wieder daran erinnert, dass nicht alle
Israelis schlecht sind und dass sie von der Angst und von Berichten über gefährliche
Terroristen getrieben sind.
Daoud selbst bestätigte das mit einer schönen Geschichte, von einer Frau aus einer der
benachbarten Siedlungen.
Sie kam zu einem seiner Vorträge auf der Farm und hörte interessiert zu. Als er von ihrem
Wasserproblem erzählte, unterbrach sie ihn. Sie erzählte betrübt, dass während die Familie
Nassar kein fließend’ Wasser hat, sie selbst einen Swimmingpool besitze. Sie sagte, dass sie
nach neun Jahren, die sie in der Siedlung lebe, zum ersten Mal begreife, dass sie Nachbarn
hat.
Diese Frau hat uns auch an einem Nachmittag Gebäck aus der Siedlungsbäckerei zukommen
lassen!
Ich habe wieder einmal gelernt, dass es diese kleinen Geschichten und Ereignisse sind, die
Hoffnung auf eine Lösung in sich bergen. Dass es wichtig ist, die Menschen selbst zu
erkennen und zu respektieren und sie nicht nach ihren Titeln zu beurteilen, die nicht immer
gut sind!
Durch die Mauer, die vielen Zäune und Check-Points werden die Menschen von einander
getrennt.
Das ist meiner Meinung nach keine Notwendigkeit, wie ich es so oft höre, sondern viel mehr
sehr gefährlich und für den Frieden nicht im Geringsten förderlich.
Denn Palästinenser kennen Israelis nur als überhebliche und macht-geile Soldaten, oder
aggressive Siedler.
Israelis kennen Palästinenser nur als Terroristen.
Um Frieden zu erreichen müssen Menschen sich kennen lernen. Sie müssen offen auf
einander zugehen und mit einander leben. Dinge gemeinsam erleben.
Wie sonst sollte man es schaffen, dass diese Menschenfeindlichkeit aufhört. Ist es doch viel
schwieriger, ja, fast unmöglich, einem Freund oder einem möglichen Freund von Freunden
eine Waffe an den Kopf zu halten.
Ein großes Problem ist aber auch die Zerrissenheit der Palästinenser und Israelis
untereinander.
So wollte zum Beispiel ein Kind aus dem Dorf Nahalin, mit einem Stein nach uns werfen,
weil wir bei den Christen leben.
Und genau an diesem Tag konnte man einen riesigen Erfolg des Projektes Dasher’s Vineyard
sehen:
Der Junge hob an zum Wurf und sofort kamen drei ältere Jungs angelaufen, um ihn davon
abzuhalten. Diese drei Jungs waren im Sommer bei den Sommer-Projekten auf dem Weinberg
dabei gewesen. Sie waren da, haben die Familie und Volontäre kennen gelernt und hatten viel
Spaß dabei. Sie wollten auf keinen Fall, dass Freunden von ihren neuen Freunden etwas
zustößt.
Die Familie Nassar ist also offensichtlich auf dem richtigen Weg.
Ihr Traum ist es, in Zukunft eine Schule für palästinensische Jugendliche aufzubauen, in
denen internationale Freiwillige Ausbildungsberufe unterrichten.
Denn, es gibt in Palästina Universitäten und auch viele sehr gebildete Menschen, aber keine
Jobs. Viele Palästinenser studieren jahrelang, um dann arbeitslos zu sein und am Ende
vielleicht sogar in einer der Siedlungen als Bauarbeiter zu arbeiten. Für mich wirkt das ein
wenig so, als würde man sich sein eigenes Grab schaufeln.
Aber was bleibt ihnen auch anderes übrig? Viele verlassen daher auch ihr Land. Was natürlich
auch nicht hilft, wenn vor allem der gut ausgebildete, studierte Teil der Bevölkerung
auswandert.
Daoud und Amal träumen deshalb von einer solchen Schule, damit die junge Bevölkerung
Dinge lernt, die Palästina am meisten braucht, um sich von Israel unabhängig zu machen.
Denn was hilft es, wenn ein Bauer entweder mit fast kaputten Geräten arbeiten muss, oder es
zu Israelis in die Reparatur geben muss. Um unabhängig zu werden, müssen die Palästinenser
durch solche Ausbildungsberufe eigenständiger werden.
Während der Arbeit an Mauern und Zisternen kann man sich das nicht immer gut vorstellen,
dass diese Träume alle verwirklicht werden können. Es wirkt fast utopisch, was sich die
beiden da alles zusammen fantasieren, wenn man selbst gerade mit dem schlechtesten
Werkzeug und den schlechtesten Bedingungen zu kämpfen hat.
Eine Holländerin, die schon mehrmals dort war und eine gute Freundin der Familie geworden
ist, hat uns aber eines anderen belehrt. Sie hatte vor 7 Jahren die gleichen Diskussionen mit
dem sturen Daher über seltsame Arbeitsweisen und schlechte Organisation. Und doch ist es
erstaunlich und überwältigend, wie viel die Familie mit all ihren Volontären schon geschafft
hat.
Es gibt zum Beispiel eine Höhle, die jetzt als Konferenz-Raum dient, mit schön bemalter
Decke. 2 Jahre haben die verschiedensten Personen daran gearbeitet, diese Höhle von all dem
Schutt zu befreien, der sich über Jahrzehnte darin angesammelt hatte.
Wenn man so was hört, dann trägt man gleich noch ein paar kaputte Eimer voller Steine mehr
an einem Tag!
Es war aber bei Weitem kein Arbeitslager, nein. Wir haben auch sehr viele Ausflüge in der
West Bank unternommen und dadurch vieles über die Situation dort gelernt.
In Bethlehem lernten wir, dass in der Geburtskirche eben nicht nur Jesus geboren wurde und
sich täglich lange Schlangen von Gläubigen dort sammeln, um die Höhle zu sehen, in der es
geschah. Auch in der 2. Intifada war diese Kirche ein wichtiger Schauplatz.
Während dieser Zeit hatten Palästinenser in Bethlehem 40 Tage Ausgangsverbot. Zwei
Wochen waren sie komplett abgeschottet und unter Beschuss, in der Restlichen Zeit durften
sie eine Stunde am Tag raus, um einzukaufen.
Die Geburtskirche diente damals vielen Palästinensern als Zufluchtsort.
Israelische Soldaten nutzten das und eröffneten von außen, durch ein kleines Fenster das
Feuer in das Kirchenschiff.
Acht Menschen kamen dabei ums Leben und lagen die gesamten 40 Tage mit den
Überlebenden in diesem Raum.
Während dieser Ausgangssperre saß Daoud mit seiner Frau und seinen Kindern in seiner
Wohnung in Bethlehem fest. Zwei Wochen davon konstant unter dem Fenster an die Wand gedrängt, unter ständigem Beschuss.
Bewohner einer der Siedlungen, die neben dem Weinberg liegen, nutzten damals die Gelegenheit, um eine Straße zu bauen. Eine Straße, die zwei Siedlungen verbinden sollte und genau über das Land der Familie Nassar führt.
Daoud konnte das aber durch seinen Anwalt stoppen, nachdem er endlich wieder einen
funktionierenden Telefonanschluss hatte.
Daraufhin waren die Siedler so wütend, dass sie 250 Olivenbäume im Tent of Nations
ausrissen. Olivenbäume, die ein Zeichen der Hoffnung sein sollten.
Das schöne Ende dieser Geschichte ist, dass eine jüdische Friedensorganisation so empört
darüber war, dass sie die gesamte Anzahl von 250 Olivenbäumen neu sponsorte.
In Hebron wurden wir vom Christian Peacemaker Team herum geführt. Es war ein
beklemmendes Gefühl, überall Soldaten zu sehen. „Versteckt“ auf den Dächern, in den
Straßen, oder neben spielenden Kindern auf dem Dach.
In der Altstadt sieht man Maschendrahtzaun über den Gassen gespannt.
Angeblich dient der Zaun dazu, Palästinenser davon abzuhalten, Steine nach
oben in israelische Wohnungen zu werfen. Viel eher sind sie aber dazu gut, all den Müll abzuhalten, den die Israelis auf die Palästinenser schütten. Nur das dreckige Spülwasser kann er nicht abhalten.
In Hebron war es auch das erste Mal für mich, dass ich miterleben musste, wie ein mir lieber
Freund gedemütigt wurde.
Bschara, Dahers Sohn, wollte uns in die Moschee begleiten, zu der man nur durch einen
kleinen Checkpoint kommt. Wir Internationalen durften alle ohne Probleme durchlaufen,
obwohl die Metall-Detektoren unerlässlich piepten.
Was das eigene Gewissen nicht unbedingt erleichtert.
Bschara musste seine Schuhe und den Gürtel ablegen und lange warten. Der Soldat schimpfte
auf Hebräisch mit ihm. Als Bschara ihn bat, englisch mit ihm zu sprechen, wurde er nur noch
wütender. Es dauerte lange, aber Bschara durfte dann gnädiger Weise doch noch durch. Als
Mahnung gab ihm der Soldat aber noch mit auf den Weg: „Next time, don’t argue with me!“
Ich habe nicht mitgezählt, wie oft ich mich bei Bschara dafür entschuldigt habe, dass er das
alles mitmachen muss, nur um uns die Stadt zu zeigen.
Aber das war erst der Anfang.
Als wir abends nach dem Abendessen zusammen saßen, sagte Amal, Bschara hätte angerufen
und erzählt, dass er und der Busfahrer von zwei Soldaten bedroht wurden.
Nachdem sie uns am Roadblock rausgelassen hatten und wir gut gelaunt zum Tor gelaufen
sind, kamen zwei Soldaten an den Bus heran und fragten Bschara, was er hier im Dunkeln zu
suchen habe. Aber jedes Mal, wenn er ihnen eine Antwort geben wollte, schrien sie ihn an, er
solle die Klappe halten. Die ganze Zeit waren natürlich die Maschinengewehre auf ihre
Gesichter gerichtet. Zum Schluss musste Bschara den einen Soldaten als "Human Shield" durch den Bus führen, da dieser sich vergewissern wollte, dass sich weder Bomben noch andere Terroristen darin befinden.
Bschara ist 21, der Soldat war ungefähr 25.
Was muss diesen Soldaten alles erzählt werden, dass ein junger Mann einem fast
Gleichaltrigen eine Waffe auf Höhe des Gesichtes vorhält, oder ihn mit der Waffe am Rücken
als menschliches Schutzschild durch den Bus schiebt?
Als ich Bschara beim nächsten Treffen fragte, wie es ihm ergangen ist an diesem Abend,
sagte er, dass er eigentlich die ganze Zeit keine Angst hatte, den Soldaten sogar ausgelacht
hat. Nur, als er das Ende des Busses erreicht hatte, da hatte er Angst. Denn, da brauchte ihn
der Soldat nicht mehr.
Es ist alles gut gegangen. Aber es ist schon was anderes, solche Dinge von „Breaking the
Silence“ – einer Gruppe israelischer Soldaten, die Menschenrechtsverletzungen in den
besetzten Gebieten öffentlich machen - in der Zeitung zu lesen, oder es von einem Freund zu
erfahren.
Bschara sagte noch: „Take it easy, Maria, it’s the way it works here”.
Das macht es nicht besser!


Aber es geht immer weiter auf der Farm. Man arbeitet, lacht viel, singt und spielt abends noch
ein paar Spiele zusammen. Und, was das wichtigste ist, man spricht viel über alles. Jeder ist
grund-ehrlich über seine Gefühle und Gedanken, die man über das Erlebte hat. Man freundet
sich immer mehr an und tauscht sich aus. Es ist unglaublich, wie schnell feste Freundschaften
entstehen, wenn man an einem Strang zieht.
Und, wie Simon, der Schwede, es so schön gesagt hat, ist es erstaunlich, welch schlechte
Motivation Geld zum Arbeiten ist. Man arbeitet doch mit sehr viel mehr Spaß und Elan, wenn
es um eine gute Sache geht.
Das haben wir auch drei Tage später wieder einmal zu spüren bekommen.
An diesem Morgen wachte ich wie gewöhnlich gegen sechs Uhr auf, nahm meine Ohropax
raus und streifte meinen Schal, der als Moskitoschutz diente, von meinem Gesicht.
Edith erzählte ganz aufgebracht von lauten Geräuschen und von Männerstimmen, die riefen
„Go back to your tent!“.
Noch im Halbschlaf fragte ich sie wovon sie denn da grade erzählt und wann das war.
Na, heute Nacht! Hast du denn nichts gehört?
Nein … Dass ich einen guten Schlaf habe, wusste ich ja schon immer. Aber das?!
30 Soldaten und 2 Polizisten hatten der Farm einen nächtlichen „Besuch“ abgestattet. Das
erste Tor haben sie aufgebrochen, das zweite mit ihren Landrovern und Seilen niedergerissen.
Der Stein mit dem Motto des Tent Of Nations („Wir weigern uns Feinde zu sein“) lag am
Boden.
Jeder Stein wurde in dieser Nacht umgedreht. Aber scheinbar haben sie unsere Zelte in Ruhe
gelassen. Es scheint fast so, als hätten sie gewusst, dass dort nur Frauen waren.
Alle anderen wurden geweckt, aus den Betten gescheucht und befragt, geweckt durch
Fausthiebe an der Tür oder gleich durch Licht im Gesicht, das an den Waffen befestig ist.
Waffen, gehalten von ca. 19-jährigen Soldaten, die sich wahrscheinlich in die Hose machten vor Angst vor den Terroristen, die angeblich hier leben. Was für eine schreckliche Kombination.
Wir alle nutzten den Morgen zum Tagebuch schreiben, erzählen und nachdenken. Ich war
konfrontiert mit ziemlich vielen Gefühlen.
Schlechtes Gewissen, dass ich fantastisch geschlafen habe, während andere in den Lauf einer
Waffe gucken mussten. Wissen, dass ich Erleichterung spüren sollte, dass ich nichts
mitbekommen habe. Diese Erleichterung wollte sich aber nicht einstellen. Es überwog das
schlechte Gewissen und die Neugierde, wie ich wohl reagiert hätte. Scham, dass es vielleicht
als Sensationslust verstanden werden könnte. Manchmal wollte ich einfach nur darüber
lachen, aus Unwissenheit, wie man auf eine solche Sache „angemessen“ reagiert.
Bald fingen die Jungs an Fußball zu spielen und dann kam auch schon Daher. "Yallah, yallah,
(arab.: Schnell, schnell) work! What else can we do, but going on and not giving up?"
Genau diese Eigenschaft der Familie ist es, vor der ich besonders meinen Hut ziehe. Diese
Fähigkeit, immer ruhig zu bleiben, niemals wütend zu werden. Eben einfach weiter machen,
oder alles von vorne beginnen, wenn etwas zerstört wurde. Ein Verhalten, das mir selbst viel
schwerer fiel, als ich es gedacht hätte.
Und wie ich bereits gesagt habe, ist Geld eine schlechte Motivation, 30 Soldaten in der Nacht
hingegen sind eine fantastische Arbeitsmotivation.
Der Morgen ging so schnell um wie kein anderer in den 2 Wochen und wir haben so viel
geschafft wie selten. Denn wir alle wussten wieder genau, warum wir hier sind.


Selbst nach diesem Ereignis fühlte ich mich immer noch wie auf einer sicheren Insel. Wir
waren alle weiterhin unbeschwert und gut gelaunt. Ich dachte sogar während der Arbeit ganz
besonders daran, wie glücklich ich hier gerade jetzt in diesem Augenblick bin und wie
dankbar ich bin, dass ich das alles erleben darf, diese Menschen kennen lernen kann. Es gab
vielleicht ein paar mehr Witze über die Soldaten als vorher. Aber sonst, war alles gleich wieder beim Alten.
Einen Nachmittag hatten wir in der 2. Woche noch mal frei, den wir dazu nutzten zu sechst
nach Ramallah zu fahren.
Es war ein fantastischer Nachmittag! Wir besichtigten Arafats Grab, machten Schattenbilder
von uns und später auch mit den palästinensischen Soldaten, die uns interessiert zugesehen
hatten. Zunächst waren sie etwas steif, aber nach viel Anfeuern von unserer Seite kamen doch
die ersten zaghaften Versuche, Schattenfiguren zu kreieren.
Wir entschieden uns dann einstimmig gegen das angepriesene „Stars and Buck“ und gingen
stattdessen in den „Palestine Coffee Shop“. Ich dachte zwar, dass ich da sicher nicht rein darf,
aber mit um die Schultern gebundenem Tuch ging das ohne Probleme.
Wir hatten wirklich wahnsinnig viel Spaß und spielten mehrere Runden Tavla.
Ich handelte uns danach einen guten Preis für ein Shirut nach Hause aus und wir bekamen
sogar alle noch einen Kaffee gratis für die Fahrt dazu.


Am Roadblock angekommen hatten wir alle ein mulmiges Gefühl im Dunkeln. Soweit hatten
uns die Soldaten also schon gekriegt! Das Gefühl, dass nach jedem guten und ausgelassenen Tag ein Schlag in den Magen folgt; auf jedes Hoch ein Tief.
Aber dieses Mal blieben sie aus. Alles war friedlich. Die einzigen, die uns schon auf dem
Weg begrüßten, waren die Hunde.
Es ist wirklich faszinierend, wie diese Gehirnwäsche funktioniert.
Man bereitet alles vor. Schickt Dinge, statt sie an sich zu tragen. Denkt sich Geschichten aus,
wo man war, wo man hin will. Hat Angst, wenn man gerade zu gut gelaunt ist, weil das
sicherlich nicht ohne einen Schrecken am Ende existiert.
Und wenn dann alles gut geht, ärgert man sich fast, dass man jetzt alles so gut vorbereitet hat
und nichts passiert ist. Verrückt!
Es ist wirklich eine verdammt gute Taktik! Mach sie irre, mach ihnen Angst, damit sie nicht
mehr kommen; sich nicht mehr in unser Land trauen. Damit sie niemandem die Wahrheit
darüber erzählen können, was wir hier machen.


Den letzten Tag verbrachten wir alle, die wir noch da waren, in Tel Aviv, bzw Jaffa.
Wir waren am Strand und in der Kneipe. Führten lange Gespräche und frühstückten ausgiebig zusammen.
Wir genossen es. Und doch, hatte es für uns alle einen schlechten Beigeschmack. All diese
Springbrunnen, die Surfer und die Party-People.
Einerseits unbegreiflich, wie das in einem solchen Land funktionieren kann. Andererseits,
habe ich zum ersten Mal begriffen, warum Leute in Tel Aviv nichts davon mitkriegen, wenn
ein Teil ihrer unmittelbaren Nachbarschaft bombardiert wird.
Diese Stadt hat es sich zur Aufgabe gemacht, gut gelaunt zu sein; ein krasser Gegensatz zum
Rest des Landes zu sein. Hier spricht man nicht über Politik oder Probleme.
Hier feiert man, surft und sonnt sich.
Einfach Augen zu und so tun, als wäre nichts.
Es war ein wunderschöner Abschluss für uns, aber leicht gefallen ist es nicht immer.
Einmal lästerte einer von uns über alles und jeden, so dass ich ihn irgendwann fragte, was eigentlich mit ihm los sei und dass er doch sonst nicht so rede.
Auch die israelische Flagge auf dem Dach des Hostels ließ ein schlechtes Gefühl in uns
heraufsteigen.
Ich sagte, die Leute hier seien doch sehr nett und wir sollten es vielleicht nicht so hart
nehmen.


Aber nach allem, was am Flughafen war, kann ich diese Gefühle unglaublich gut verstehen!
Ich hatte sehr viel Angst vor den Fragen am Flughafen. Mein Tagebuch hatte ich schweren
Herzens einer Freundin übergeben, damit sie es mir schickt. Obwohl es nach nur 2 Wochen
im Land ja ein Leichtes sein sollte, sich als Touristin auszugeben.
Kurz vor dem Flughafen, im Bus, war es mir auf einmal egal. Sollen sie mich doch fragen.
Klappt schon.
Die ersten Fragen musste ich schon vor dem Terminal beantworten. Die Frau lächelte mir nett
zu. Dann sah sie meine dreckigen Wanderschuhe. Kein Lächeln mehr.
„Stopp. Security Check!“
Warum bist du hier? Warum Israel? Wie heißt der Typ, der dir davon erzählt hat? Wo warst
du? Warum Bethlehem? Hat dir ein Tag da drüben gereicht? Warst du alleine unterwegs? War
das nicht langweilig?


KEEP ON SMILING


Mit einem Lächeln und dummen Antworten kommt man gut weg.
Na, das war doch nicht schwer.
Aber, das war es natürlich nicht.
Immer, wenn man meint, man hat es geschafft, stellt sich einem wieder einer in den Weg.
Mehr Fragen. Überheblicher Tonfall. Böse Blicke.
Rucksack wird kleinlich genau ausgeräumt.
So, jetzt darfst du schau’n, wie du das alles wieder da rein kriegst!
Man kriegt Nummern auf die Taschen, von denen man nicht weiß, was sie bedeuten.
Man wartet in Schlangen, am Ende blickt jemand auf diese Nummer und sagt: “Follow me!“
Man wird abgeführt. Neugierige, ängstliche Blicke folgen einem. Man selbst ist ahnungslos.
Alles Teil der Taktik.
In meinem Pullover ist ein arabisches Schild. Zu spät gemerkt. Panik.
Bei jeder Kontrolle steigert sich meine Angst. Das mit dem Lächeln fällt mir immer schwerer.
Zum einen aus Angst. Zum andern, weil die Menschen vor mir immer arroganter und
unfreundlicher werden. Sie scheinen es zu genießen, am längeren Hebel zu sitzen.
Meine Toleranz fällt von 80 auf 0 und meine Wut steigert sich von 10 auf 100. Es ist
schrecklich.
Ein Weinregal mit dem „Taste of Israel“ darin, würde ich gerne fallen sehen!
Am liebsten durch mich!
All diese Flaschen mit Wein, wahrscheinlich aus geklauten Trauben hergestellt.
Tränen der Wut steigen mir in die Augen. Der Frosch im Hals könnte größer nicht sein.
Reiß dich zusammen, Maria!!! Nicht jetzt weinen! Du musst sicherlich noch durch einige
Kontrollen. Was soll ich denen denn sonst sagen? Dass ihr Land so wunderschön ist und ich
es nicht verlassen will? Lächerlich!
Bei dem Springbrunnen im Flughafen kamen mir die Zeilen meines früheren Lieblingsliedes
in den Kopf. „Die Gedanken sind frei! Wer kann sie erraten ….“
Es wurde immer schwerer, Tränen zurück zu halten.
Leise sang ich das Lied vor mich hin, um nicht laut zu schreien.
Im Flugzeug saß eine furchtbar arrogante Frau neben mir, die mit ihrer Tochter israelische
Lieder sang.
Den gesamten Flug bis München liefen mir unzählige Tränen über das Gesicht. Ich konnte sie
nicht mehr zurück halten. Sie fielen leise, aber mein Gesicht klebte von der salzigen
Flüssigkeit.
Ich wollte alle im Flugzeug anschreien, was ihnen einfällt. Was sie sich dabei denken, bei
ihrem Verhalten.
Dann berührte mich von hinten eine Hand an der Schulter; eine tröstende Geste.
Ich blickte mich um und sah das freundliche Gesicht eines älteren Herrn mit Kippa.
Das brachte mich nur noch mehr zum Weinen.
Ich dachte nur, wenn er wüsste, was ich alles denke in diesem Moment, dann würde er mich
sicherlich nicht trösten wollen.
Und doch war ich ihm so unendlich dankbar für diese kleine Geste, die es schaffte, meine
Wut nicht in Hass umschlagen zu lassen.
Ich weinte auch in München noch. In Berlin hatte ich mich aber wieder beruhigt.
Doch, was mir von diesen Stunden im Flughafen geblieben ist, ist die tiefe Dankbarkeit, dass
ich mit Liedern wie „Die Gedanken sind frei“ aufwachsen durfte.
Dass ich als Kind an Friedensgebeten teilnehmen konnte. Auch, wenn ich nicht begriff worum
es ging.
Das Gefühl der Gemeinschaft und das Wissen, dass ich meinen Weg frei wählen darf und tun
und lassen kann, was immer ich will, das ist angekommen.