"Nur Menschen, die psychisch krank sind haben mehrere Gefühle gleichzeitig! Wähle ein Gefühl!"
Wow, welch eine Aussage eines Erziehers zu einem Zweitklässler, der seine Klammer auf dem Gefühlsrad über drei Gefühle legt.
Ich weiß ja nicht, wie es euch geht. Aber derzeit habe ich quasi ausschließlich mehrere Gefühle gleichzeitig. Freude, Trauer, Angst, Wut und Scham. Sie alle sind meine treuen
Begleiterinnen.
Ich freue mich über die Hilfsbereitschaft so vieler Menschen, die Geflüchtete aufnehmen wollen.
Und dann kommt auch die Wut hoch, wenn ich sehe, wie viele Hunderttausende auf die Straße gehen oder Menschen aufnehmen und wie wenige wir waren im Vergleich bei den Demos, die die Aufnahme von
Menschen aus Afghanistan forderten. Nur wenige Wochen oder Monate zuvor.
Wenn ich sehe, wie viele Geflüchtete aus anderen Ländern seit Jahren in großen Unterkünften wohnen und kaum ein Mensch auf die Idee kam, seine Wohnung zu öffnen, in die er*sie nun auf einmal
fünfköpfige Familien aufnehmen kann.
Wut und Trauer werden fast übermächtig, wenn ich in Mitten dieser allumfassenden Solidarität folgende Nachricht lese:
"Gericht erklärt Verbot der Aufnahme von Moria-Flüchtlingen für rechtens
Das Bundesinnenministerium darf Aufnahmeprogramme der Bundesländer für schutzsuchende Flüchtlinge stoppen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht am Dienstag in Leipzig entschieden. Es wies damit
eine Klage des Landes Berlin ab.
Berlin wollte im Juni 2020 zusätzlich 300 besonders schutzwürdige Flüchtlinge im Rahmen eines Landesprogramms aus griechischen Flüchtlingslagern in der Ägäis aufnehmen. Dazu brauchte es aber
grünes Licht vom Bundesinnenministerium, das damals von Ressortchef Horst Seehofer (CSU) geführt wurde. Dieses hatte die Zustimmung verwehrt, weil die Bundeseinheitlichkeit nicht gewahrt sei.
(…)"
Ich freue mich, dass Berlin versucht Räume zu schaffen für all die Menschen, die täglich am Hauptbahnhof ankommen.
Und ich bin so sauer, dass ein Bekannter, der sieben Jahre in einer Großunterkunft in Köpenick war und gerade endlich einen halben Container in Kreuzberg sein Zuhause nennen durfte, nach einer
Woche wieder rausgeworfen wurde und nun in Marzahn hängt. Wieder in einer Großunterkunft, in einem ihm eher feindlich gegenüberstehenden Bezirk.
Weil diese Container in Kreuzberg an die Geflüchteten aus der Ukraine gegeben werden.
Ich freue mich für diese Menschen, dass sie Platz dort finden und verstehe doch nicht, wieso sie nicht in Marzahn untergebracht werden können. Warum Menschen, die in der Umgebung ihrer
Wohncontainer in Kreuzberg endlich einigermaßen angekommen waren, Kita- und Schulplätze für ihre Kinder gefunden hatten, nun dort weg müssen
Ich freue mich über den warmherzigen Empfang am Hauptbahnhof, den die meisten Ukrainer*innen erfahren. Und verzweifle darüber, dass BPoC*, die mit eben diesen Zügen aus eben diesem Krieg
ankommen, von der Bundespolizei abgeführt werden.
Und ich schreie innerlich "ES GEHT ABER NICHT UM DICH!!", wenn Menschen am Bahnhof warten, jemanden mit nach Hause nehmen zu können und enttäuscht sind, wenn sie nicht "dran genommen werden". Das
hat so einen fahlen Beigeschmack von Retter-Fantasien und selbst dafür gefeiert werden wollen.
Außerdem habe ich Angst.
Angst, dass dieser Krieg weiter eskaliert.
Und mehr noch, dass es zu spät ist. Dass ich zu spät bin. Dass alles, was ich gelernt habe und womit ich arbeite, nichts mehr bringt. Dass es zu spät ist, Kindern und Erwachsenen Wege der
konstruktiven und gewaltfreien Konfliktbearbeitung zu zeigen, wenn vor der Haustür und auch sonst auf fast der gesamten Welt nur noch Gewalt und Waffen sprechen.
Und über all dem hat sich die Trauer eingerichtet. Die Trauer darüber, wie oft wir, ich, im Kleinen versage, gewaltfrei und konstruktiv mit Konflikten umzugehen. Wie fatal wir darin im Großen
Ganzen scheitern.
Die Trauer über das Leid, das so viele Menschen betrifft.
Zum Beispiel den Cousin eines ehemaligen Schülers aus Afghanistan, der in Bosnien davon erfuhr, dass sein älterer Cousin von den Taliban erschossen wurde und der einfach umgekippt ist als er das
hörte. Weil er immer ohnmächtig wird, wenn er traurige Nachrichten bekommt, weil sein Gehirn einfach keine mehr ertragen kann.
Ich trauere um die Menschen, die in der Ukraine gerade ein neues Leben nach dem Krieg im Heimatland aufgebaut hatten und nun schon wieder auf der Flucht sind und alles schon wieder zurücklassen
mussten.
Über die russische Frau, die ich sagen hörte, dass sie nun das deutsche Mädchen verstehen kann, die aus der Scham heraus im Ausland Deutsch zu sprechen so viele Sprachen gelernt hat.
Und dann trauere ich um diese und die nächsten zwei Generationen in all den Ländern, in denen Krieg herrscht. Denn ich weiß zu gut, wie viel auch die zweite Generation noch an Päckchen mit sich
trägt nach einem Krieg.
Dann wird mir oft alles zu viel und ich will eigentlich nur abschalten. Schaue Serien, lese in der Sonne ein schönes Buch.
Doch das möchte meine Scham mir meist nicht gönnen. Sie schleicht sich immer wieder ein und sagt, dass ich mich doch informieren muss, nicht wegschauen darf.
Das sind dann die Momente, in denen ich mich unendlich dankbar fühle, dass ich Konfliktberaterin bin! Denn es ist nicht zu spät! Es kann nie zu spät sein. Es ist wichtiger denn je, weiter daran
zu arbeiten unsere Konflikte ohne Gewalt zu bearbeiten! Es jeden Tag aufs Neue im Kleien zu üben. Ich bin so dankbar, gerade mit diesen Erst- bis Drittklässlern zu arbeiten und sie mit dem
WIR-Projekt kurz in ihr Inneres zu begleiten. Bin froh, dass ich ihnen erklären kann, dass es völlig normal ist, so viele Gefühle gleichzeitig zu haben und wie sehr ich mich freue, dass sie es so
gut erzählen können, welches Gefühl wovon ausgelöst wurde.
Ich bin so dankbar, dass ich mich in meine Arbeit stürzen kann und weiß, es ist nicht nur eine Ablenkung, es ist konstruktiv und wichtig und es ist nicht zu spät!