Die Zeit zwischen den Jahren hat immer eine ganz eigene Atmosphäre. Es erinnert mich an eine Fahrt mit der Vapur auf dem Bosporus – zwischen den Kontinenten.
Man steigt aus dem absoluten Trubel und Stress der Stadt auf die Fähre. Und sobald sie ablegt, ist es, als habe jemand einen Pausenknopf gedrückt. Oder alles auf Sow Motion gestellt. Es tritt augenblicklich absolute Ruhe ein. Es ist Zeit zum Lesen und Teetrinken. Der Bosporus bietet Raum für Weitblick und ein Schweifen der Gedanken. Die Möwen begleiten die Vapur in der Hoffnung auf Simit-Krumen. Ein Schauspiel, dass ich stundenlang beobachten könnte.
Doch, sobald die Fähre kurz vor dem Hafen ist, regt sich wieder der unterschwellige Stress. Alle wollen die ersten sein beim Ausstieg und drängen zum Ausgang und die Anspannung steigt merklich. Noch bevor das Schiff wirklich sicher angelegt hat, wird die Zeitlupenfunktion wieder aufgehoben und die ersten Menschen springen waghalsig an Land und rennen zum nächsten Termin. Und der Kreis beginnt von neuem.
Jetzt ist die Erde einmal um die Sonne gezogen, wir hatten die Zeit der augenblicklichen absoluten Ruhe und Entspannung. Doch schon heute steigt die Anspannung, noch kaum merklich, an. Morgen geht es in die nächste Runde. Auf zum nächsten Termin! Auf ins nächste Jahr.
Mein letztes Jahr fühlte sich ein bisschen an, wie ein Wirbeln im Stillstand.
Ich hatte Projekte geplant, wurde gebucht und dann wurde alles wieder abgesagt. Die Ungewissheit, ob die geplanten Projekte für 2022 wirklich stattfinden werden, machte mir große Angst und ich verlor mich in einem Aktionismus, der, vor allem im eigentlichen Stillstand, sehr energiezehrend war.
Zum Glück gebe ich jedes Jahr zum Jahreswechsel einen Workshop. Das alte Jahr reflektieren und überlegen, was ich für das nächste Jahr brauche. So fand ich mein Motto für 2022, dass mir hoffentlich mehr Ruhe und Zuversicht bringen kann:
„Lass es fließen!“
Denn, wie schön ist es doch, dass schon so viele Projekte anstehen. Es soll Konflikttrainings an Grund- und Sekundarschulen geben, da ich nun über „Stark trotz Corona“ gebucht werden kann. Und ab Frühjahr und Sommer stehen noch weitere Projekte in der Warteschlange. Ganz unabhängig davon, ob sie letztendlich stattfinden können in der Pandemie, ist das ein riesen Erfolg, der mich sehr freut! Mit „lass es fließen“ möchte ich mich erinnern, dass es alles schon wird. Dass kommt was kommt und dass eben alles seine Zeit braucht. Nicht alles von heute auf morgen reibungslos laufen wird.
So entstand mein Bild für 2022: die Sanduhr. Der Sand fließt langsam aber stetig und es wird schon alles werden.
Schritt für Schritt.
Oder, wie Beppo Straßenkehrer es beschreibt: „Siehst du, Momo, es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man. (…) Und dann fängt man an sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen. (…) Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. (…) Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“ (Michael Ende, 1973: „Momo“, S.37)
So versuche ich mal Beppos Beispiel zu folgen und betrete 2022 mit einem „Schritt – einem Atemzug – einem Besenstrich – Schritt – Atemzug – Besenstrich …“ (S.36)
Ich wünsche euch auch für 2022 ein Jahr im Fluss mit vielen Atemzügen und kleinen Schritten, die Freude bringen!