Wo anfangen? Ich weiß es nicht.
Denn alles ist anders. Alles ist verschoben.
Vielleicht beginne ich mit der Dankbarkeit.
Ich bin dankbar für meine Lungenentzündung vor zwei Jahren. Denn während dieser Zeit war ich auch lahm gelegt. Ich konnte mich physisch nicht weiter als 200 m von meiner Wohnung entfernen und auch das nur in Zeitlupe. Ich war an Couch und Bett gefesselt. Ich war zuvor nur gehetzt, hatte Doppelschichten und Stress. Meine Lunge hatte mir endlich Einhalt geboten. Und sie lehrte mich, die Bereicherung in dieser Einschränkung im Außen zu sehen. Meine Reisen nach Innen zu machen, mein Leben neu zu denken und zu planen. Ich fing auch damals an zu zeichnen. Weil es auf einmal sein musste. Weil ich diesen Ausdruck auf einmal dringend brauchte und dachte "zur Hölle mit dem ewigen 'ich kann nicht malen'!"
An diese Erfahrungen kann ich jetzt gut wieder anknüpfen.
Ich bin dankbar für meine Zeit in Palästina, in der ich ein Leben mit absoluter Bewegungseinschränkung kennen gelernt habe. Auch wenn ich das hiermit nicht unbedingt vergleichen möchte. Und in der ich erlebt habe, wie viel Freude und Freiheit man trotz allem spürt dabei.
Ich bin dankbar für meine Erlebnisse während der Gezi-Proteste. Auch damals hat sich das Leben von heute auf morgen (und damals kam es wirklich über Nacht) umgedreht. Was gestern galt, war heute falsch. Ich habe also schon einmal erlebt, dass sich alle üblichen gesellschaftlichen Rituale und Regeln auf einmal ändern. Wie Solidarität und Kreativität Aufschwung erhalten. Wie schnell wir Menschen uns an neue Situationen anpassen können. Ich finde es immer wieder faszinierend. Damals war es völlig normal, dass man mit Gasmaske und Schwimmbrille durch die Stadt läuft. Was kurz zuvor und auch danach wieder undenkbar und absurd wirkte.
Und auch jetzt denke ich schon, wenn ich Filme schaue, dass diese Leute sich aber wirklich zu nahe sind und zucke ein wenig zusammen, wenn sie sich zur Begrüßung umarmen. Es wirkt schon falsch, was die da in den Filmen tun.
Gleichzeitig bin ich überrascht, wie "normal" das Leben draußen noch zu sein scheint, wenn ich mal raus gehe. Hier in meinem Kiez gibt es keine leer gefegten Straßen, keine leeren Supermärkte und kaum Schutzmaßnahmen für Kassierer*innen. Ich lese davon in den Nachrichten und bin verwirrt, wenn ich raus gehe und es nicht erlebe. Das "Normale" ist zu "falsch" verschoben. Und das neue "Richtig" noch nicht überall angekommen. Auch ich finde es noch unglaublich seltsam, Menschen mit Mundschutz und Handschuhen im Straßenbild zu sehen. Aber sollte das nicht das neue "Normal“ sein? So wie damals in Istanbul die Gasmaske und die Schwimmbrille? Vielleicht ist es so, weil man heute nicht sofortige Auswirkungen spürt, wie damals das Augenbrennen und die Atemnot. Das kommt ja erst viel später. Vielleicht. Und ist das jetzt "normal", erstmal keinen Schutz anzuziehen, oder verrückt?
Aber auch sonst ist alles verschoben.
Es gibt keine physischen Kontakte mehr und doch hört man häufiger von Freund*innen und Familie als zuvor.
Bei meiner Arbeit, in der wir sonst eher als "Einzelkämpfer*innen" unterwegs sind, haben wir unter Kolleg*innen seit den zwei Tagen Home Office mehr Kontakt zueinander als im ganzen letzten Jahr.
Das soziale Leben kriegt immer härtere Grenzen gesetzt, während bei der Arbeit die Grenzen zum Privaten gefährlich verschwimmen. Wir gehen jetzt nicht mehr nachhause und haben frei. Wir sind die ganze Zeit zuhause. Und so sehr ich es genieße, in der Pause eine schöne Platte aufzulegen und was Leckeres zu essen, ist es härtere Arbeit für mich, meine Grenzen zum Privaten zu schützen. Genauso wie es härtere Arbeit ist, den Kontakt im Privaten aktiv und aufrecht zu erhalten.
Der Kontakt gestaltet sich sowieso ganz anders. Der Kontakt ist online gegangen. Und so hat sich mein größter Alptraum zu meinem Rettungsanker entwickelt. Denn alleine in einer Einzimmerwohnung ganz ohne Käffchen mit Freund*innen per Skype wäre es auf Dauer ja nicht auszuhalten.
Ich hoffe aber sehr, dass sich diese Form des Kontaktes nicht auf ewig verfestigt!
Der Großteil der Menschen hier in Deutschland hat zum ersten Mal damit zu tun, dass die Bedürfnisse "Sicherheit" und "Orientierung" in Gefahr sind. Und wie wenig dieser Großteil - eben aufgrund der fehlenden Erfahrung - damit umgehen kann sehen wir ja an den leeren Regalen im Supermarkt.
Auch bei dem Bedürfnis "Anerkennung" hat sich einiges verschoben. Noch bis vor Kurzem bekam man (verrückter Weise) in vielen Bereichen als Arbeitnehmer Anerkennung, wenn man sich krank zum Dienst schleppt. Ich selbst habe früher auch schon oft mit Fieber gekellnert. Es wurde gelästert und die Nase gerümpft, wenn sich jemand nur wegen einer Erkältung krank meldet und nicht kommt. Heute ist alles anders.
Man wird beschimpft und böse angesehen, wenn man mit laufender Nase zur Arbeit kommt. Hier wurde meiner Meinung nach ein "Falsch" zu "Richtig" verschoben. Aber seltsam ist es eben schon. Und ich kann gut verstehen, wenn man nicht so schnell umschalten kann. Wenn man noch nicht sofort verstehen kann, dass man heute eben die Anerkennung dafür bekommt, wenn man sich schnell krank meldet. Auch wenn es "nur" eine laufende Nase ist.
Und dann kann man ja eigentlich wieder zur Dankbarkeit kommen.
Denn vieles, was früher richtig, aber falsch war, ist nun definitiv falsch. Krank arbeiten, (viel) fliegen, Berufe wertschätzen, die für die Gesellschaft gar nichts bringen...
Es gibt einiges, dass nun geschafft werden könnte, wie bspw. viele Menschen davon zu überzeugen, dass ein Bedingunsloses Grundeinkommen ne gute Sache ist. Oder dass Kassierer*innen, Pflegekräfte und Sozialarbeiter*innen mehr verdienen müssen.
Und vor allem:
Die Welt kann durchatmen. Dem Menschen ist endlich Einhalt geboten.
Fest steht, dies Krise bietet Risiken – damit meine ich nicht nur eine Infizierung –
aber auch viele Chancen.
Meine Ausbilder*innen Karen Johne und Karl-Heinz Bittl haben in kürzester Zeit eine Online-Version ihrer CAT-Seminare (Civil Action and Transformation) entwickelt. Es ist jetzt wichtig, sich über diese Risiken und Chancen bewusst zu werden! Damit wir nicht, wie der Mensch eben nun einmal so ist, entweder Veränderungen zum Schlechteren nach der Krise einfach weiter als "normal" annehmen, oder sich bietende Chancen zur Veränderung verpuffen lassen und einfach weiter machen wie zuvor.
Am 31.03.2020 starte ich meine erste Gruppe. Ich habe noch nie ein Seminar online gehalten und es ist alles neu. Aber das ist es ja gerade sowieso. Also, versuchen wir's! Wer Lust hat mitzumachen findet hier die Daten zu meiner ersten Seminarrunde:
https://www.maria-krisinger.de/cat/
Und hier alle weiteren Informationen zu diesem Projekt:
http://cat.atcc-konfliktbearbeitung.de/
Gebt mir Bescheid! Die Teilnehmerzahl ist auf 8 Personen begrenzt.
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