Eigentlich wollte ich etwas über den Herbst schreiben.
Und auch wenn er jetzt unerwartet wirklich Einzug hält, bin ich noch nicht in dieser Zeit des Loslassens angekommen. Viel eher drehen sich meine Gedanken noch immer um einen meiner neuen Anfänge.
Im letzen Monat gab ich zum ersten Mal eine kleine Seminarreihe in der Jugendstrafanstalt Berlin. Das war sehr intensiv und spannend. Der Einblick in diese andere Welt war sehr berührend.
“Draußen” beschäftigt uns meist die Grenzenlosigkeit unserer Zeit. Das immer erreichbar Sein. Die Flut von Möglichkeiten und die Schwierigkeit zu entscheiden, was ich wählen möchte. Sei es im Beruf, in der Partnerschaft oder nur beim Einkaufen. Es gibt zu viel Auswahl. Das überfordert viele. Ebenso begegne ich sowohl in mir selbst, als auch bei anderen, der Schwierigkeit Grenzen zu ziehen. Sich mal Zeit für sich gönnen. In der Arbeit die Stunden runter zu schrauben. Nein zu sagen. Die eigenen Grenzen sind so weit gesteckt, dass wir uns abhetzen müssen, um noch rechtzeitig an die Stelle zu kommen, an der eine Grenze gerade verteidigt werden muss. Zumindest geht es mir so. Das Verlangen, zur Gesellschaft dazu zu gehören bringt uns dazu, die 100 % zu geben. Einmal versuchte ich, an nur zwei Tagen in der Woche zu arbeiten. In der restlichen Zeit wollte ich endlich in Ruhe überlegen, wohin ich will in meinem Leben. Und wie ich es gestalten kann. Doch jedesmal, wenn mich jemand fragte, was ich gerade mache und dann dieses kurze Schweigen nach meiner Antwort herrschte, geriet ich wieder in Zweifel. Kann ich das wirklich machen? Nur zweimal in der Woche arbeiten. Ich Nichtsnutz! Der große Wunsch, zu dieser Gemeinschaft dazuzugehören treibt mich immer wieder ins Überarbeiten. Leistung zeigen, sich anstrengen, beschäftig sein. Das ist es, was hier einen Wert hat und Anerkennung findet.
“Drinnen” herrscht das Gegenteil. Die Gitter und Mauern sind der erste Indikator für starre Grenzen, klar. Auch der Fakt, dass die Bewegungsfreiheit sehr begrenzt ist und das prägnanteste Geräusch in diesem Ort das “Klack, klack” des Schlüssels im Schloss ist, das durch die Flure hallt. Aber auch bei meinen Teilnehmern sind Grenzen ein anderes Thema als draußen. Es gibt keine Grenzenlosigkeit. Und das nicht erst seit die dicken Mauern der JSA sie umgeben.
Es fehlte schon immer diese Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten. Ihnen standen noch nie alle Türen offen. Sie hatten noch nie das Problem, zu viel Auswahl zu haben und sich einfach nicht entscheiden zu können. Türen waren schon immer alle verschlossen. Es sei denn, man hat sie mit Tricks geöffnet oder einfach eingetreten. Sie sind Meister der Grenzübertretung. Mal mit Witz, mal verletzend. Vielleicht ist auch all das ausgelöst, durch den Wunsch in die Grenzen der Gesellschaft hinein zu gelangen. Und immer wieder geht der Schuss nach hinten los.
Auch die eigenen Grenzen sind eng gezogen. Sehr eng. Da darf niemand rein und die Grenzen werden wehement und hart verteidigt. Hier haben die Grenzwächter keine weiten Wege, sollte eine Stelle angegriffen werden. Es gibt auch nicht diesen Antreiber, diese Angst, nicht zur Gesellschaft zu gehören. Es herrscht die Sicherheit, nicht dazuzugehören. Wozu sollte man sich anstrengen? Man wird sowieso nie dazugehören.
Ich musste mich also komplett umorientieren. Grenzen ein wenig nach außen verschieben. Vertrauen schaffen. Und jede kleine Einladung, hinter die Mauern zu blicken war ein Geschenk. Ein wirklich großes Geschenk. Ich bin auch dankbar, dass meine Teilnehmer sehr wohl bemüht waren mitzumachen. Ich wollte versuchen, zu vermitteln, dass Grenzen langsam erweitert werden können, ohne unerlaubte Übertretungen. Dass einen beispielsweise eine Schul- und Ausbildung Schrittchen für Schrittchen in die Grenzen der Gesellschaft hinein bringen kann. Und dass die Wahrnehmung der Gefühle helfen kann, die eigenen Grenzwächter vorzuwarnen. Denn zum Teil ist deren harte Reaktion für sie selbst erschreckend und überraschend. Doch auch der Weg zu den Gefühlen ist hart verteidigt.
Das ist es auch, was das Drinnen mit dem Draußen verbindet. Die Mauern nach innen. Zum eigenen Herz. Zu dem, was man wirklich will, wer man wirklich ist. Auch hier sind die Mauern “drinnen” wohl etwas dicker und stabiler als bei so manchem “draußen”, weil man schon mehr Schmerzliches erlebt hat.
Aber auf diesen Weg sollten wir uns alle begeben.
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